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update 21.02.03
Michel Foucault
Die Ordnung des
Diskurses
In der Antrittsvorlesung, die der 1984
verstorbene Philosoph und Historiker anläßlich seiner Berufung an
das Collège
de France am 2.
Dezember 1970 gehalten hat, ist das geschichts-philosophische Programm, aus dem
sich seine späteren gro-ßen Werke speisen sollten, in den
Grundzügen bereits ent-worfen. Sie ist ein Schlüsseltext der modernen
Ideen-geschichte. In einer subtilen Analyse der literarischen und
wissenschaftlichen Institutionen und Mechanismen, die das Geschriebene und
Gesprochene einschränken, kontrol-lieren und determinieren, entwickelt Foucault hier den theo-retischen 'Diskurs',
der ihn nachmals berühmt gemacht und mit dem er die Grenzen zwischen
Historiographie, Literatur-wissenschaft, Philosophie und Rhetorik
überschritten hat. Ralf Konersmann zeichnet in einem scharfsichtigen und
kenntnisreichen Essay die zentralen Motive des Foucault-schen Werks nach und
erhellt die Gründe für dessen fächer-übergreifende Wirkung.
Michel Foucault, geboren 1926, lehrte von 1970
bis zu seinem Tode 1984 'Geschichte der Denksysteme' am Collège de France. Seine Arbeiten zur
Geschichte des Gefängnisses, der Psychiatrie und schließlich der
Sexualität begründeten seinen internationalen Ruhm. Im Fischer
Taschenbuch Verlag sind erschienen: >Von der Subversion des Wissens< (Bd.
7398); >Die Geburt der Klinik< (Bd. 7400); >Schriften zur
Literatur< (Bd. 7405). 1993 erschien im S.Fischer Verlag von Michel Foucault u. a., >Technologien des
Selbst<.
Aus dem
Französischen von Walter Seitter
Mit einem Essay von
Ralf Konersmann
Fischer Taschenbuch
Verlag
Limitierte
Sonderausgabe
Veröffentlicht im
Fischer Taschenbuch Verlag GmbH Frankfurt am Main, Oktober 1998
Lizenzausgabe mit
freundlicher Genehmigung
des Carl Hanser
Verlags, München Wien
Die französische
Originalausgabe erschien 1972
unter dem Titel
>L'ordre du discours<
bei Gallimard, Paris
¿ Michel Foucault
Für die
deutschsprachige Ausgabe:
¿ Carl Hanser Verlag,
München Wien 1974
Für Ralf
Konersmann, >Der Philosoph mit der Maske< :
¿ Fischer Taschenbuch
Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Alle Rechte
vorbehalten
Umschlaggestaltung:
Groothuis + Malsy, Bremen
Druck und Bindung:
Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
isbn 3-596-50126-1
Inhalt
MICHEL FOUCAULT
Die Ordnung des
Diskurses.......................šššššš 7
RALF KONERSMANN
Der Philosoph mit der Maske Michel
Foucaults L'ordre
du discoursš ..............šššš 51
MICHEL FOUCAULT
Inauguralvorlesung
am Collège de France,
2.Dezember 1970
In den Diskurs, den ich heute zu
halten habe, und in die Dis-kurse, die ich vielleicht durch Jahre hindurch hier
werde hal-ten müssen, hätte ich mich gern verstohlen eingeschlichen.
Anstatt das Wort zu ergreifen, wäre ich von ihm lieber um-garnt worden, um
jedes Anfangens enthoben zu sein. Ich hätte gewünscht, während
meines Sprechens eine Stimme ohne Namen zu vernehmen, die mir immer schon
voraus war: ich wäre es dann zufrieden gewesen, an ihre Worte anzu-schließen,
sie fortzusetzen, mich in ihren Fugen unbemerkt einzunisten, gleichsam, als
hätte sie mir ein Zeichen gegeben, indem sie für einen Augenblick
aussetzte. Dann gäbe es kein Anfangen. Anstatt der Urheber des Diskurses
zu sein, wäre ich im Zufall seines Ablaufs nur eine winzige Lücke und
viel-leicht sein Ende.
Ich hätte gewünscht,
daß es hinter mir eine Stimme gäbe, die schon seit langem das Wort
ergriffen hätte und im vorhinein alles, was ich sage, verdoppelte und
daß diese Stimme so sprä-che: 'Man muß weiterreden, ich kann
nicht weitermachen, man muß weiterreden, man muß Wörter sagen,
solange es welche gibt; man muß sie sagen, bis sie mich finden, bis sie
mich sagen - befremdende Mühe, befremdendes Versagen; man muß
weiterreden; vielleicht ist es schon getan, vielleicht haben sie mich schon
gesagt, vielleicht haben sie mich schon an die Schwelle meiner Geschichte
getragen, an das Tor, wel-ches sich schon auf meine Geschichte öffnet
(seine Öffnung würde mich erstaunen).'
Ich glaube, es gibt bei vielen ein
ähnliches Verlangen, nicht anfangen zu müssen; ein ähnliches
Begehren, sich von vorn-herein auf der anderen Seite des Diskurses zu befinden
und nicht von außen ansehen zu müssen, was er Einzigartiges,
Bedrohliches, ja vielleicht Verderbliches an sich hat. Auf die-sen so
verbreiteten Wunsch gibt die Institution eine ironische Antwort, indem sie die
Anfänge feierlich gestaltet, indem sie
9
sie mit ehrfürchtigem Schweigen
umgibt und zu weithin sichtbaren Zeichen ritualisiert.
Das Begehren sagt: 'Ich selbst
möchte nicht in jene gefähr-liche Ordnung des Diskurses eintreten
müssen; ich möchte nichts zu tun haben mit dem, was es
Einschneidendes und Entscheidendes in ihm gibt; ich möchte, daß er
um mich her-um eine ruhige, tiefe und unendlich offene Transparenz bilde, in
der die anderen meinem Erwarten antworten und aus der die Wahrheiten eine nach
der anderen hervorgehen; ich möchte nur in ihm und von ihm wie ein
glückliches Findel-kind getragen werden.' Und die Institution antwortet:
'Du brauchst vor dem Anfangen keine Angst zu haben; wir alle sind da, um dir zu
zeigen, daß der Diskurs in der Ordnung der Gesetze steht; daß man
seit jeher über seinem Auftreten wacht; daß ihm ein Platz bereitet
ist, der ihn ehrt, aber ent-waffnet; und daß seine Macht, falls er welche
hat, von uns und nur von uns stammt.'
Aber vielleicht sind diese Institution
und dieses Begehren nur zwei entgegengesetzte Antworten auf ein und dieselbe Un-ruhe:
Unruhe angesichts dessen, was der Diskurs in seiner materiellen Wirklichkeit
als gesprochenes oder geschriebenes Ding ist; Unruhe angesichts jener
vergänglichen Existenz, die zweifellos dem Verschwinden geweiht ist, aber
nach einer Zeitlichkeit, die nicht die unsere ist; Unruhe, die unter jener
alltäglichen und unscheinbaren Tätigkeit nicht genau vor-stellbarer
Mächte und Gefahren zu verspüren ist; verdächtige Unruhe von
Kämpfen, Siegen, Verletzungen, Überwältigun-gen und
Knechtschaften in so vielen Wörtern, deren Rauhei-ten sich seit langem
abgeschliffen haben. Aber was ist denn so gefährlich an der Tatsache,
daß die Leute sprechen und daß ihre Diskurse endlos weiterwuchern?
Wo liegt die Gefahr?
Die Hypothese, die ich heute abend
entwickeln möchte, um den Ort - oder vielleicht das sehr provisorische
Theater -meiner Arbeit zu fixieren: Ich setze voraus, daß in jeder Ge-
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Seilschaft die Produktion des
Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird -
und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und
die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Er-eignishaftes
zu bannen, seine schwere und bedrohliche Mate-rialität zu umgehen.
In einer Gesellschaft wie der unseren
kennt man sehr wohl Prozeduren der AÇsschließung. Die sichtbarste und vertrau-teste
ist das Verbot. Man weiß, daß man nicht das Recht hat, alles
zu sagen, daß man nicht bei jeder Gelegenheit von allem sprechen kann,
daß schließlich nicht jeder beliebige über alles beliebige
reden kann. Tabu des Gegenstandes, Ritual der Um-stände, bevorzugtes oder
ausschließliches Recht des sprechen-den Subjekts - dies sind die drei
Typen von Verboten, die sich überschneiden, verstärken oder
ausgleichen und so einen komplexen Raster bilden, der sich ständig ändert.
Ich möchte nur anmerken, daß es heute zwei Bereiche gibt, in denen
der Raster besonders eng ist und die Verbote immer zahlreicher werden: die Bereicheder Sexualität und der Politik. Offensicht-lich ist der
Diskurs keineswegs jenes transparente und neutrale Element, in dem die
Sexualität sich entwaffnet und die Politik sich befriedet, vielmehr ist er
ein bevorzugter Ort, einige ihrer bedrohlichsten Kräfte zu entfalten. Der
Diskurs mag dem An-schein nach fast ein Nichts sein - die Verbote, die ihn treffen,
offenbaren nur allzubald seine Verbindung mit dem Begehren und der Macht. Und
das ist nicht erstaunlich. Denn der Dis-kurs - die Psychoanalyse hat es uns
gezeigt - ist nicht einfach das, was das Begehren offenbart (oder verbirgt): er
ist auch Gegenstand des Begehrens; und der Diskurs - dies lehrt uns immer
wieder die Geschichte - ist auch nicht bloß das, was die Kämpfe oder
die Systeme der Beherrschung in Sprache über-setzt : er ist dasjenige,
worum und womit man kämpft ; er ist die Macht, deren man sich zu
bemächtigen sucht. Es gibt in unserer Gesellschaft noch ein anderes
Prinzip der Ausschließung: kein Verbot, sondern eine Grenzziehung und
eine Verwerfung. Ich denke an die Entgegensetzung von
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Vernunft und Wahnsinn. Seit dem
Mittelalter ist der Wahn-sinnige derjenige, dessen Diskurs nicht ebenso
zirkulieren kann wie der der ändern : sein Wort gilt für null und
nichtig, es hat weder Wahrheit noch Bedeutung, kann vor Gericht nichts
bezeugen, kein Rechtsgeschäft und keinen Vertrag be-glaubigen, kann nicht
einmal im Meßopfer die Transsubstan-tiation sich vollziehen lassen und aus dem
Brot einen Leib machen; andererseits kann es aber auch geschehen, daß man
dem Wort des Wahnsinnigen im Gegensatz zu jedem ändern eigenartige
Kräfte zutraut: die Macht, eine verborgene Wahr-heit zu sagen oder die
Zukunft vorauszukünden oder in aller Naivität das zu sehen, was die
Weisheit der ändern nicht wahrzunehmen vermag. Seltsamerweise wurde in
Europa jahrhundertelang das Wort des Wahnsinnigen entweder nicht vernommen oder,
wenn es vernommen wurde, als Wahr-spruch gehört. Entweder fiel es ins
Nichts, indem es mit sei-nem Auftauchen sofort verworfen wurde; oder man entzif-ferte
darin eine naive oder listige Vernunft, eine vernünftigere Vernunft als
die der vernünftigen Leute. Ob es nun ausge-sperrt wurde oder insgeheim
die Weihen der Vernunft erhielt - es existierte nicht. Zwar hat man an seinen
Worten den Wahnsinnigen erkannt; seine Worte zogen die Grenze, aber niemals
wurden sie gesammelt, niemals hörte man wirklich auf sie. Vor dem Ende des
18. Jahrhunderts ist kein Arzt auf die Idee gekommen, sich zu fragen, was denn
in diesem Wort gesagt wird (und wie und warum es gesagt wird) - in dem Wort,
das doch den Unterschied setzte. Der ganze unermeß-liche Diskurs des
Wahnsinnigen wurde wieder zu sinnlosem Geräusch. Nur symbolisch erteilte
man ihm das Wort: auf dem Theater, wo er entwaffnet und versöhnt auftrat,
weil er die Rolle der maskierten Wahrheit spielte. Man wird mir sagen,
daß all das heute zu Ende ist oder zu Ende geht; daß das Wort des
Wahnsinnigen nicht mehr auf der anderen Seite steht; daß es nicht mehr
null und nichtig ist; daß es uns vielmehr auflauert; daß wir in ihm
einen Sinn su-chen oder die Ruinen eines Werks; und daß wir es bereits in
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dem überraschen, was wir selbst
artikulieren: in dem winzi-gen Riß, in dem uns entgeht, was wir sagen.
Aber noch soviel Aufmerksamkeit beweist nicht, daß die alte Grenze nicht
mehr besteht. Man denke nur an den ganzen Wissensapparat, mit dem wir jenes
Wort entziffern; man denke nur an das ganze Netz von Institutionen, das einem -
Arzt oder Psycho-analytiker - erlaubt, jenes Wort zu hören, und das
gleichzei-tig dem Patienten erlaubt, seine armseligen Wörter hervorzu-holen
oder verzweifelt zurückzuhalten. Man braucht nur an all das zu denken, um
den Verdacht zu erwecken, daß die Grenze keineswegs beseitigt ist,
daß sie nur anders gezogen ist: nach anderen Linien, durch neue
Institutionen und mit Wirkungen, die nicht dieselben sind. Und selbst wenn die
Rolle des Arztes nur die wäre, das Ohr einem endlich freien Wort zu leihen
- das Horchen läßt die Zäsur immer bestehen. Es wird einem
Diskurs gelauscht, der vom Begehren durch-drungen ist und sich - in seinem
äußersten Hochgefühl oder in seiner äußersten Angst
- mit schrecklichen Mächten begabt glaubt. Wenn es des Schweigens der
Vernunft bedarf, um die Ungeheuer zu heilen, so muß das Schweigen doch
auf der Hut sein: also bleibt die Grenzziehung. Vielleicht ist es gewagt, den
Gegensatz zwischen dem Wahren und dem Falschen als ein drittes
Ausschließungssystem zu betrachten - neben den beiden, von denen ich eben
sprach. Wie sollte man vernünftigerweise den Zwang der Wahrheit mit
solchen Grenzziehungen vergleichen können, die von vornherein
willkürlich sind oder sich zumindest um ge-schichtliche
Zufälligkeiten herum organisieren, mit Grenz-ziehungen, die nicht nur
verändert werden können, sondern sich tatsächlich ständig
verschieben, die von einem ganzen Netz von Institutionen getragen sind, welche
sie aufzwingen und absichern, und die sich zwangsweise, ja zum Teil gewalt-sam
durchsetzen ?
Gewiß, auf der Ebene eines
Urteils innerhalb eines Diskurses ist die Grenzziehung zwischen dem Wahren und
dem Fal-schen weder willkürklich noch veränderbar, weder institutio-
13
nell noch gewaltsam. Begibt man sich
aber auf eine andere Ebene, stellt man die Frage nach jenem Willen zur
Wahrheit, der seit Jahrhunderten unsere Diskurse durchdringt, oder fragt man
allgemeiner, welche Grenzziehung unseren Willen zum Wissen bestimmt, so wird
man vielleicht ein Ausschlie-ßungssystem (ein historisches,
veränderbares, institutionell zwingendes System) sich abzeichnen sehen.
Zweifellos hat sich diese Grenzziehung geschichtlich konsti-tuiert. Denn noch
bei den griechischen Dichtern des 6. Jahr-hunderts war der wahre Diskurs - im
starken und wertbeton-ten Sinn des Wortes: der wahre Diskurs, vor dem man
Achtung und Ehrfurcht hatte und dem man sich unterwerfen mußte, weil er
der herrschende war - eben der Diskurs, der von den hierzu Befugten nach dem
erforderlichen Ritual verlautbart worden ist; es war der Diskurs, der Recht
sprach und jedem sein Teil zuwies; es war der Diskurs, der die Zukunft
prophezeiend nicht nur ankündigte, was geschehen würde, sondern auch
zu seiner Verwirklichung beitrug, der die Zu-stimmung der Menschen
herbeiführte und sich so mit dem Geschick verflocht. Aber schon ein
Jahrhundert später lag die höchste Wahrheit nicht mehr in dem, was
der Diskurs war, oder in dem, was er tat, sie lag in dem, was er sagte:
eines Tages hatte sich die Wahrheit vom ritualisierten, wirksamen und
gerechten Akt der Aussage weg und zur Aussage selbst hin verschoben: zu ihrem
Sinn, ihrer Form, ihrem Gegen-stand, ihrem referentiellen Bezug. Zwischen
Hesiod und Pla-ton
hat sich eine
Teilung durchgesetzt, welche den wahren Diskurs und den falschen Diskurs
trennte; diese Teilung war neu, denn nunmehr war der wahre Diskurs nicht mehr
der kostbare und begehrenswerte Diskurs, der an die Ausübung von Macht
gebunden ist. Der Sophist ist vertrieben. Diese historische Grenzziehung hat
unserem Willen zum Wissen zweifellos seine allgemeine Form gegeben. Aber sie
hat sich auch immer wieder verschoben: die großen wissen-schaftlichen
Mutationen können vielleicht manchmal als die Folgen einer Entdeckung
verstanden werden, sie können aber
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auch als das Erscheinen neuer Formen
des Willens zur Wahr-heit gesehen werden. Es gibt ohne Zweifel im 19.
Jahrhundert einen Willen zur Wahrheit, der weder in seinen Formen noch in
seinen Gegenstandsbereichen, noch in den von ihm ver-wendeten Techniken, mit
dem Willen zum Wissen überein-stimmt, welcher die Kultur der Klassik
charakterisiert. Ge-hen wir noch weiter zurück: an der Wende vom 16. zum
17. Jahrhundert ist (vor allem in England) ein Wille zum Wis-sen aufgetreten,
der im Vorgriff auf seine wirklichen Inhalte Ebenen von möglichen
beobachtbaren, meßbaren, klassifi-zierbaren Gegenständen entwarf;
ein Wille zum Wissen, der dem erkennenden Subjekt (gewissermaßen vor
aller Erfah-rung) eine bestimmte Position, einen bestimmten Blick und eine
bestimmte Funktion (zu sehen anstatt zu lesen, zu verifi-zieren anstatt zu
kommentieren) zuwies; ein Wille zum Wis-sen, der (in einem allgemeineren Sinn
als irgendein techni-sches Instrument) das technische Niveau vorschrieb, auf
dem allein die Erkenntnisse verifizierbar und nützlich sein konn-ten. Es
sieht so aus, als hätte seit der großen Platonischen Grenzziehung
der Wille zur Wahrheit seine eigene Ge-schichte, welche nicht die der
zwingenden Wahrheiten ist: eine Geschichte der Ebenen der
Erkenntnisgegenstände, eine Geschichte der Funktionen und Positionen des
erkennenden Subjekts, eine Geschichte der materiellen, technischen, in-strumenteilen
Investitionen der Erkenntnis. Dieser Wille zur Wahrheit stützt sich,
ebenso wie die übrigen Ausschließungssysteme, auf eine institutionelle
Basis: er wird zugleich verstärkt und ständig erneuert von einem gan-zen
Geflecht von Praktiken wie vor allem natürlich der Päd-agogik, dem
System der Bücher, der Verlage und der Biblio-theken, den gelehrten
Gesellschaften einstmals und den La-boratorien heute. Gründlicher noch
abgesichert wird er zweifellos durch die Art und Weise, in der das Wissen in
einer Gesellschaft eingesetzt wird, in der es gewertet und sortiert, verteilt
und zugewiesen wird. Es sei hier nur symbolisch an das alte griechische Prinzip
erinnert: daß die Arithmetik in
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den demokratischen Städten
betrieben werden kann, da in ihr Gleichheitsbeziehungen gelehrt werden;
daß aber die Geo-metrie nur in den Oligarchien unterrichtet werden darf,
da sie die Proportionen in der Ungleichheit aufzeigt. Schließlich glaube
ich, daß dieser auf einer institutionellen Basis und Verteilung beruhende
Wille zur Wahrheit in unse-rer Gesellschaft dazu tendiert, auf die anderen
Diskurse Druck und Zwang auszuüben. Ich denke daran, wie sich die
abendländische Literatur seit Jahrhunderten ans Natürliche und
Wahrscheinliche, an die Wahrhaftigkeit und sogar an die Wissenschaft - also an
den wahren Diskurs - anlehnen muß. Ich denke gleichfalls daran, wie die
ökonomischen Praktiken, die als Vorschriften oder Rezepte oder auch als
Moral kodifi-ziert sind, sich seit dem 16. Jahrhundert zu rationalisieren und
zu rechtfertigen suchen, indem sie sich auf eine Theorie der Reichtümer
und der Produktion stützen. Ich denke auch daran, wie das so gebieterische
System der Strafjustiz seine Grundlage oder seine Rechtfertigung zunächst
in einer Theo-rie des Rechts und seit dem 19. Jahrhundert in einem sozio-logischen,
psychologischen, medizinischen, psychiatrischen Wissen sucht: als ob selbst das
Wort des Gesetzes in unserer Gesellschaft nur noch durch einen Diskurs der
Wahrheit au-torisiert werden könnte.
Drei große
Ausschließungssysteme treffen den Diskurs : das verbotene Wort; die
Ausgrenzung des Wahnsinns; der Wille zur Wahrheit. Vom letzten habe ich am
meisten gesprochen. Denn auf dieses bewegen sich die beiden anderen seit Jahr-hunderten
zu; immer mehr versucht es, sie sich unterzuord-nen, um sie gleichzeitig zu
modifizieren und zu begründen. Während die beiden ersten immer
schwächer werden, und Ungewisser, sofern sie vom Willen zur Wahrheit
durchkreuzt werden, wird dieser immer stärker, immer tiefer und unaus-weichlicher.
Und doch spricht man von ihm am
wenigsten. Es ist, als wür-den der Wille zur Wahrheit und seine Wendungen
für uns gerade von der Wahrheit und ihrem notwendigen Ablauf ver-
16
deckt. Der Grund dafür ist
vielleicht dieser: Wenn der wahre Diskurs seit den Griechen nicht mehr
derjenige ist, der dem Begehren antwortet oder der die Macht ausübt, was
ist dann im Willen zur Wahrheit, im Willen, den wahren Diskurs zu sagen, am
Werk - wenn nicht das Begehren und die Macht? Der wahre Diskurs, den die
Notwendigkeit seiner Form vom Begehren ablöst und von der Macht befreit,
kann den Willen zur Wahrheit, der ihn durchdringt, nicht anerkennen; und der
Wille zur Wahrheit, der sich uns seit langem auf zwingt, ist so beschaffen,
daß die Wahrheit, die er will, gar nicht an-ders kann, als ihn zu
verschleiern.
So bietet sich unseren Augen eine
Wahrheit dar, welche Reichtum und Fruchtbarkeit ist, sanfte und listig
universelle Kraft. Und wir übersehen dabei den Willen zur Wahrheit -jene
gewaltige Ausschließungsmaschinerie. Alle jene, die in unserer Geschichte
immer wieder versucht haben, diesen Willen zur Wahrheit umzubiegen und ihn
gegen die Wahrheit zu wenden, gerade dort, wo die Wahrheit es unternimmt, das
Verbot zu rechtfertigen und den Wahnsinn zu definieren, alle jene - von
Nietzsche zu Artaud
und Bataille - müssen uns nun als - freilich
erhabene - Orientierungszeichen unserer alltäglichen Arbeit dienen.
Es gibt offensichtlich viele andere
Prozeduren der Kontrolle und Einschränkung des Diskurses. Diejenigen, von
denen ich bis jetzt gesprochen habe, wirken gewissermaßen von
außen; sie funktionieren als Ausschließungssysteme; sie betreffen
den Diskurs in seinem Zusammenspiel mit der Macht und dem Begehren.
Ich glaube, man kann noch eine andere
Gruppe ausmachen. Interne Prozeduren, mit denen die Diskurse ihre eigene Kon-trolle
selbst ausüben; Prozeduren, die als Klassifikations-, Anordnungs-,
Verteilungsprinzipien wirken. Diesmal geht es darum, eine andere Dimension des
Diskurses zu bändigen: die des Ereignisses und des Zufalls.
17
Hier ist in erster Linie der Kommentar
zu nennen. Ich nehme an, bin aber nicht ganz sicher, daß es kaum eine
Gesellschaft gibt, in der nicht große Erzählungen existieren, die
man er-zählt, wiederholt, abwandelt; Formeln, Texte, ritualisierte
Diskurssammlungen, die man bei bestimmten Gelegenheiten vorträgt; einmal
gesagte Dinge, die man aufbewahrt, weil man in ihnen ein Geheimnis oder einen
Reichtum vermutet. In allen Gesellschaften läßt sich eine Art
Gefalle zwischen den Diskursen vermuten: zwischen den Diskursen, die im Auf und
Ab des Alltags geäußert werden und mit dem Akt ihres
Ausgesprochenwerdens vergehen, und den Diskursen, die am Ursprung anderer
Sprechakte stehen, die sie wieder auf-nehmen, transformieren oder besprechen -
also jenen Dis-kursen, die über ihr Ausgesprochenwerden hinaus gesagt
sind, gesagt bleiben, und noch zu sagen sind. Wir kennen sie in unserem
Kultursystem : es sind die religiösen und die juri-stischen Texte, auch
die literarischen Texte mit ihrem so merkwürdigen Status, bis zu einem
gewissen Grade die wis-senschaftlichen Texte.
Gewiß ist diese Abstufung weder
stabil noch konstant oder absolut. Es gibt nicht auf der einen Seite die ein
für allemal gegebene Kategorie der grundlegenden oder schöpferischen
Diskurse und auf der anderen Seite die Masse der wiederho-lenden, glossierenden
und kommentierenden. Viele Primär-texte verdunkeln sich und verschwinden
und manchmal über-nehmen Kommentare den ersten Platz. Aber wenn sich auch
die Ansatzpunkte ändern, so bleibt doch die Funktion; das Prinzip der
Abstufung tritt immer wieder in Kraft. Die radi-kale Aufhebung dieser Abstufung
kann niemals etwas ande-res sein als Spiel, Utopie oder Angst. Spiel in der Art
von Borges als Kommentar, der nur wörtliche (aber feierliche und
erwartete) Wiederholung dessen ist, was er kommentiert; oder Spiel einer
Kritik, die endlos von einem Werk spricht, das gar nicht existiert. Lyrischer
Traum eines Diskurses, der in jedem seiner Punkte absolut neu und unschuldig
wiederge-boren wird und der ohne Unterlaß in aller Frische aus Din-
18
gen, Gefühlen oder Gedanken
wiederersteht. Angst jenes Kranken von Janet, für den jede geringste Aussage
gleichsam ein Wort des Evangeliums war, unerschöpfliche Sinnschätze
barg und endlos erneuert, wiederholt und kommentiert zu werden verdiente: 'Wenn
ich nur daran denke', sagte er, so-bald er etwas las oder hörte, 'wenn ich
nur daran denke, daß dieser Satz in die Ewigkeit eingeht und daß
ich ihn vielleicht noch nicht ganz verstanden habe.'
Aber auch hier geht es immer nur
darum, eines der Glieder der Relation zu beseitigen, nicht die Beziehung
selbst. Diese Beziehung ändert sich ständig in der Zeit und nimmt
auch innerhalb einer Epoche vielfältige und auseinanderstrebende Formen
an. Die juristische Exegese ist (schon seit langem) vom religiösen
Kommentar sehr verschieden. Ein einziges li-terarisches Werk kann gleichzeitig
zu recht unterschiedlichen Diskurstypen Anlaß geben: die Odyssee als
Primärtext wird gleichzeitig in der Übersetzung von Bérard, in unzähligen
Texterklärungen und im Ulysses von Joyce wiederholt. Für den
Augenblick möchte ich nur darauf hinweisen, daß im Kommentar die
Abstufung von Primärtext und Sekundärtext zwei einander
ergänzende Rollen spielt. Einerseits ermög-licht es (und zwar
endlos), neue Diskurse zu konstruieren: der Überhang des
Primärtextes, seine Fortdauer, sein Status als immer wieder
aktualisierbarer Diskurs, der vielfältige oder verborgene Sinn, als dessen
Inhaber er gilt, die Ver-schwiegenheit und der Reichtum, die man ihm wesenhaft
zuspricht - all das begründet eine offene Möglichkeit zu spre-chen.
Aber andererseits hat der Kommentar, welche Metho-den er auch anwenden mag, nur
die Aufgabe, das schließlich zu sagen, was dort schon
verschwiegen artikuliert war. Er muß (einem Paradox gehorchend, das er
immer verschiebt, aber dem er niemals entrinnt) zum ersten Mal das sagen, was
doch schon gesagt worden ist, und muß unablässig das wie-derholen,
was eigentlich niemals gesagt worden ist. Das unendliche Gewimmel der
Kommentare ist vom Traum einer maskierten Wiederholung durchdrungen: an seinem
Hori-
19
zont steht vielleicht nur das, was an
seinem Ausgangspunkt stand - das bloße Rezitieren. Der Kommentar bannt
den Zu-fall des Diskurses, indem er ihm gewisse Zugeständnisse macht: er
erlaubt zwar, etwas anderes als den Text selbst zu sagen, aber unter der
Voraussetzung, daß der Text selbst ge-sagt und in gewisser Weise
vollendet werde. Die offene Viel-falt und das Wagnis des Zufalls werden durch
das Prinzip des Kommentars von dem, was gesagt zu werden droht, auf die Zahl,
die Form, die Maske, die Umstände der Wiederholung übertragen. Das
Neue ist nicht in dem, was gesagt wird, son-dern im Ereignis seiner Wiederkehr.
Ich glaube, es gibt noch ein anderes
Prinzip der Verknappung des Diskurses, welches das erste bis zu einem gewissen
Grade ergänzt. Es handelt sich um den Autor. Und zwar nicht um den Autor
als sprechendes Individuum, das einen Text ge-sprochen oder geschrieben hat,
sondern um den Autor als Prinzip der Gruppierung von Diskursen, als Einheit und
Ur-sprung ihrer Bedeutungen, als Mittelpunkt ihres Zusammen-halts. Dieses
Prinzip wirkt nicht überall in der gleichen Weise; vielmehr gibt es um uns
herum viele Diskurse, die im Umlauf sind, ohne ihren Sinn oder ihre Wirksamkeit
einem Autor zu verdanken: banale Aussagen, die alsbald ver-schwinden;
Beschlüsse oder Verträge, die Unterzeichner brauchen, aber keinen
Autor; technische Anweisungen, die anonym weitergegeben werden. In den
Bereichen, in denen die Zuschreibung an einen Autor die Regel ist - Literatur,
Philosophie, Wissenschaft -, kann man sehen, daß sie nicht immer dieselbe
Rolle spielt. Im Mittelalter war die Zuschrei-bung an einen Autor im Bereich
des wissenschaftlichen Dis-kurses unerläßlich, denn sie war ein
Index der Wahrheit. Man war sogar der Auffassung, daß ein Satz seinen
wissenschaft-lichen Wert von seinem Autor beziehe. Seit dem 17. Jahrhun-dert
hat sich diese Funktion im wissenschaftlichen Diskurs immer mehr
abgeschwächt: die Rolle des Autors besteht nur mehr darin, einem Lehrsatz,
einem Effekt, einem Beispiel, einem Syndrom den Namen zu geben. Hingegen hat
sich im
20
Bereich des literarischen Diskurses
seit eben jener Zeit die Funktion des Autors verstärkt: all die
Erzählungen, Ge-dichte, Dramen oder Komödien, die man im Mittelalter
mehr oder weniger anonym zirkulieren ließ, werden nun danach befragt (und
sie müssen es sagen), woher sie kommen, wer sie geschrieben hat. Man
verlangt, daß der Autor von der Einheit der Texte, die man unter seinen
Namen stellt, Rechenschaft ablegt; man verlangt von ihm, den verborgenen Sinn,
der sie durchkreuzt, zu offenbaren oder zumindest in sich zu tragen; man
verlangt von ihm, sie in sein persönliches Leben, in seine gelebten
Erfahrungen, in ihre wirkliche Geschichte einzufü-gen. Der Autor ist
dasjenige, was der beunruhigenden Spra-che der Fiktion ihre Einheiten, ihren
Zusammenhang, ihre Einfügung in das Wirkliche gibt.
Nun wird man mir sagen : 'Aber Sie
sprechen da vom Autor, wie ihn die Kritik nachträglich erfindet, wenn der
Tod einge-treten ist und nur mehr eine verworrene Masse von unver-ständlichen
Texten übrig ist; selbstverständlich muß man dann ein
bißchen Ordnung in all das bringen; man muß sich einen Entwurf,
einen Zusammenhang, eine Thematik aus-denken, die man dem Bewußtsein oder
dem Leben des viel-leicht tatsächlich etwas fiktiven Autors zuschreibt.
Aber das ändert doch nichts daran, daß er existiert hat, dieser
wirkliche Autor, dieser Mensch, der in all die abgenutzten Wörter ein-gebrochen
ist, und sein Genie oder seine Unordnung in sie hineingetragen hat.'
Es wäre sicherlich absurd, die
Existenz des schreibenden und erfindenden Individuums zu leugnen. Aber ich
denke, daß -zumindest seit einer bestimmten Epoche - das Individuum, das
sich daranmacht, einen Text zu schreiben, aus dem viel-leicht ein Werk wird,
die Funktion des Autors in Anspruch nimmt. Was es schreibt und was es nicht
schreibt, was es ent-wirft, und sei es nur eine flüchtige Skizze, was es
an banalen Äußerungen fallen läßt - dieses ganze
differenzierte Spiel ist von der Autor-Funktion vorgeschrieben, die es von
seiner Epoche übernimmt oder die es seinerseits modifiziert. Und
21
wenn es das traditionelle Bild, das
man sich vom Autor macht, umstößt, so schafft es eine neue
Autor-Position, von der aus es in allem, was es je sagt, seinem Werk ein neues,
noch verschwommenes Profil verleiht. Um den Zufall des Diskurses in Grenzen zu
halten, setzt der Kommentar das Spiel der Identität in der Form der
Wieder-holung und des Selben ein. Das Spiel der Identität,
mit dem das Prinzip des Autors denselben Zufall einschränkt, hat die
Form der Individualität und des Ich.
Auch in dem, was man die 'Disziplinen'
nennt (nicht die Wissenschaften), wäre ein Prinzip der Einschränkung
zu er-kennen. Auch dieses Prinzip ist relativ und beweglich. Auch es erlaubt zu
konstruieren, aber nach ganz bestimmten Spiel-regeln.
Die Organisation der Disziplinen
unterscheidet sich sowohl vom Prinzip des Kommentars wie von dem des Autors.
Vom Prinzip des Autors hebt sich eine Disziplin ab, denn sie defi-niert sich
durch einen Bereich von Gegenständen, ein Bündel von Methoden, ein
Korpus von als wahr angesehenen Sätzen, ein Spiel von Regeln und
Definitionen, von Techniken und Instrumenten: das alles konstituiert ein
anonymes System, das jedem zur Verfügung steht, der sich seiner bedienen
will oder kann, ohne daß sein Sinn oder sein Wert von seinem Erfinder
abhängen. Das Prinzip der Disziplin hebt sich aber auch von dem des
Kommentars ab : im Unterschied zu diesem wird in der Disziplin nicht ein Sinn
vorausgesetzt, der wie-derentdeckt werden muß, und auch keine
Identität, die zu wiederholen ist; sondern das, was für die
Konstruktion neuer Aussagen erforderlich ist. Zur Disziplin gehört die
Mög-lichkeit, endlos neue Sätze zu formulieren. Aber es ist noch mehr
notwendig - damit weniger möglich ist: eine Disziplin ist nicht die Summe
dessen, was bezüglich einer bestimmten Sache Wahres gesagt werden kann;
sie ist auch nicht die Gesamtheit dessen, was über eine bestimmte
Gegebenheit aufgrund eines Prinzips der Kohärenz oder der
Systematizität angenommen werden kann. Die Medizin be-
22
steht nicht aus der Gesamtheit dessen,
was man bezüglich der Krankheit Wahres sagen kann; die Botanik kann nicht
als die Summe aller Wahrheiten, welche die Pflanzen betreffen, defi-niert
werden. Es gibt dafür zwei Gründe: einmal bestehen die Botanik oder
die Medizin, ebenso wie jede andere Disziplin, nicht nur aus Wahrheiten,
sondern auch aus Irrtümern, die nicht Residuen oder Fremdkörper sind,
sondern positive Funktionen haben, historisch wirksam sind und eine Rolle
spielen, die von der der Wahrheit oft nicht zu trennen ist. Aber außerdem
muß ein Satz, damit er zur Botanik oder zur Medizin gehöre,
Bedingungen entsprechen, die in gewisser Weise strenger und komplexer sind, als
es die reine und einfa-che Wahrheit ist: jedenfalls Bedingungen anderer Art. Er
muß sich auf eine bestimmte Gegenstandsebene beziehen: vom Ende des 17.
Jahrhunderts an muß z. B. ein Satz, um ein 'botanischer' Satz zu sein,
die sichtbare Struktur der Pflanze, das System ihrer nahen und fernen
Ähnlichkeiten oder die Mechanik ihrer Flüssigkeiten betreffen (und er
durfte nicht, wie noch im 16. Jahrhundert, ihre symbolischen Bedeutungen
einbeziehen oder gar die Gesamtheit der Kräfte und Eigenschaften, die man
ihr in der Antike zusprach). Ein Satz muß aber auch begriffliche oder
technische Instrumente verwenden, die einem genau definierten Typ
angehören: vom 19. Jahrhundert an war ein Satz nicht mehr medizinisch,
'fiel er aus der Medizin heraus' und galt als individuelle Einbil-dung oder
volkstümlicher Aberglaube, wenn er zugleich me-taphorische, qualitative
und substantielle Begriffe enthielt (z. B. die Begriffe der Verstopfung, der
erhitzten Flüssigkei-ten oder der ausgetrockneten Festkörper); er
konnte aber, ja er mußte Begriffe verwenden, die ebenso metaphorisch
sind, aber auf einem anderen Modell aufbauen, einem funktionellen und
physiologischen Modell (so die Begriffe der Reizung, der Entzündung oder
der Degenerierung der Gewebe). Dar-über hinaus muß ein Satz, um
einer Disziplin anzugehören, sich einem bestimmten theoretischen Horizont
einfügen : es sei nur daran erinnert, daß die Suche nach der
ursprünglichen
23
Sprache, die bis ins 18. Jahrhundert
hinein ein durchaus aner-kanntes Thema war, in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhun-derts jeden Diskurs nicht bloß zum Irrtum, sondern zu einem
Hirngespinst, zu einer Träumerei, zu einer sprachwissen-schaftlichen
Monstrosität werden ließ.
Innerhalb ihrer Grenzen kennt jede
Disziplin wahre und fal-sche Sätze, aber jenseits ihrer Grenzen
läßt sie eine ganze Té-ratologie des Wissens wuchern. Das
Äußere einer Wissen-schaft ist sowohl mehr bevölkert als auch
weniger bevölkert, als man glaubt: es gibt dort die unmittelbare
Erfahrung, die imaginären Themen der Einbildungskraft, die unvordenk-liche
Überzeugungen tragen und immer wieder erneuern; aber vielleicht gibt es
keine Irrtümer im strengen Sinn, denn der Irrtum kann nur innerhalb einer
definierten Praxis auftau-chen und entschieden werden; hingegen schleichen
Monstren herum, deren Form mit der Geschichte des Wissens wechselt. Ein Satz
muß also komplexen und schwierigen Erfordernis-sen entsprechen, um der
Gesamtheit einer Disziplin angehö-ren zu können. Bevor er als wahr
oder falsch bezeichnet wer-den kann, muß er, wie Georges Canguilhem sagen
würde, 'im Wahren' sein.
Man hat sich oft gefragt, wie die
Botaniker oder die Biologen des 19. Jahrhunderts es fertiggebracht haben, nicht
zu sehen, daß das, was Mendel sagte, wahr ist. Das liegt daran, daß
Mendel von Gegenständen sprach, daß er Methoden verwen-dete und sich
in einen theoretischen Horizont stellte, welche der Biologie seiner Epoche
fremd waren. Zweifellos hatte Naudin vor ihm die These aufgestellt, daß
die Erbmerkmale diskret sind; aber wie neu und befremdend dieses Prinzip auch
war, es konnte - zumindest als Rätsel - dem biologi-schen Diskurs
angehören. Mendel ist es, der das Erbmerkmal als absolut neuen
biologischen Gegenstand konstituiert, in-dem er eine bis dahin unbekannte
Filterung vornimmt: er löst das Erbmerkmal von der Art ab, er löst es
vom Geschlecht ab, das es weitergibt; und der Bereich, in dem er es beobachtet,
ist die unendlich offene Serie der Generationen, in der es nach
24
statistischen Regelhaftigkeiten
auftaucht und verschwindet. Dieser neue Gegenstand erfordert neue begriffliche
Instru-mente und neue theoretische Begründungen. Mendel sagte die
Wahrheit, aber er war nicht 'im Wahren' des biologischen Diskurses seiner
Epoche: biologische Gegenstände und Be-griffe wurden nach ganz anderen
Regeln gebildet. Es mußte der Maßstab gewechselt werden, es
mußte eine ganz neue Ge-genstandsebene in der Biologie entfaltet werden,
damit Men-del in das Wahre eintreten und seine Sätze (zu einem
großen Teil) sich bestätigen konnten. Mendel war ein wahres Mon-strum,
weshalb die Wissenschaft von ihm nicht sprechen konnte. Hingegen hatte
Schieiden, 30 Jahre früher, indem er, mitten im 19. Jahrhundert, aber
gemäß den Regeln des biolo-gischen Diskurses, die pflanzliche
Sexualität leugnete, ledig-lich einen disziplinierten Irrtum formuliert.
Es ist immer möglich, daß man im Raum eines wilden Außen die
Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer
diskursiven 'Polizei' gehorcht, die man in je-dem seiner Diskurse reaktivieren
muß.
Die Disziplin ist ein Kontrollprinzip
der Produktion des Dis-kurses. Sie setzt ihr Grenzen durch das Spiel einer Identität,
welche die Form einer permanenten Reaktualisierung der Regeln hat.
Gewöhnlich sieht man in der Fruchtbarkeit
eines Autors, in der Vielfältigkeit der Kommentare, in der Entwicklung
einer Disziplin unbegrenzte Quellen für die Schöpfung von Dis-kursen.
Vielleicht. Doch ebenso handelt es sich um Prinzi-pien der Einschränkung,
und wahrscheinlich kann man sie in ihrer positiven und fruchtbaren Rolle nur
verstehen, wenn man ihre restriktive und zwingende Funktion betrachtet.
Es gibt, glaube ich, eine dritte
Gruppe von Prozeduren, wel-che die Kontrolle der Diskurse ermöglichen.
Diesmal handelt es sich nicht darum, ihre Kräfte zu bändigen und die
Zufälle ihres Auftauchens zu beherrschen. Es geht darum, die Bedin-
25
gungen ihres Einsatzes zu bestimmen,
den sprechenden Indi-viduen gewisse Regeln aufzuerlegen und so zu verhindern,
daß jedermann Zugang zu den Diskursen hat: Verknappung diesmal der
sprechenden Subjekte. Niemand kann in die Ordnung des Diskurses eintreten, wenn
er nicht gewissen Er-fordernissen genügt, wenn er nicht von vornherein
dazu qua-lifiziert ist. Genauer gesagt : nicht alle Regionen des Diskur-ses
sind in gleicher Weise offen und zugänglich; einige sind stark abgeschirmt
(und abschirmend), während andere fast allen Winden offenstehen und ohne
Einschränkung jedem sprechenden Subjekt verfügbar erscheinen. Ich
möchte zu diesem Thema eine Anekdote erwähnen, die so schön ist,
daß man um ihre Wahrheit zittern muß. Sie faßt alle
Einschränkungen des Diskurses zusammen: die Begrenzun-gen seiner Macht,
die Bändigungen seines zufälligen Auftre-tens und die Selektionen
unter den sprechenden Subjekten. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts hatte der Shogun davon ge-hört, daß die
Überlegenheit der Europäer - auf den Gebieten der Schiffahrt, des
Handels, der Politik, der Kriegskunst - in ihrer Kenntnis der Mathematik
begründet sei. Er wünschte, sich eines so kostbaren Wissens zu
bemächtigen. Als man ihm von einem englischen Seemann erzählt hatte,
der das Geheim-nis dieser wunderbaren Diskurse kannte, ließ er ihn in
seinen Palast kommen und hielt ihn dort fest. Ganz allein nahm er bei ihm
Unterrichtsstunden. Er lernte Mathematik. Er be-hielt tatsächlich die
Macht und wurde sehr alt. Erst im 19. Jahrhundert gab es dann japanische
Mathematiker. Aber die Anekdote ist damit nicht zu Ende: sie hat ihre
europäische Kehrseite. Dieser englische Seemann, Will Adams, soll näm-lich
ein Autodidakt gewesen sein : ein Zimmermann, der bei seiner Arbeit auf einer
Werft die Geometrie gelernt hatte. Drückt sich nicht in dieser
Erzählung einer der großen My-then der europäischen Kultur aus
? Dem monopolisierten und geheimen Wissen der orientalischen Tyrannei setzt
Europa die universale Kommunikation der Erkenntnis, den unbe-grenzten und
freien Austausch der Diskurse entgegen.
26
Doch hält dieser Gedanke einer
Prüfung nicht stand. Der Austausch und die Kommunikation sind positive
Figuren innerhalb komplexer Systeme der Einschränkung; und sie können
nicht unabhängig von diesen funktionieren. Die oberflächlichste und
sichtbarste Form dieser Einschrän-kungssysteme besteht in dem, was man
unter dem Namen des Rituals zusammenfassen kann. Das Ritual definiert die
Qualifikation, welche die sprechenden Individuen besitzen müssen (wobei
diese Individuen im Dialog, in der Frage, im Vortrag bestimmte Positionen
einnehmen und bestimmte Aussagen formulieren müssen); es definiert die
Gesten, die Verhaltensweisen, die Umstände und alle Zeichen, welche den
Diskurs begleiten müssen; es fixiert schließlich die vor-ausgesetzte
oder erzwungene Wirksamkeit der Worte, ihre Wirkung auf ihre Adressaten und die
Grenzen ihrer zwingen-den Kräfte. Die religiösen, gerichtlichen,
therapeutischen Diskurse, und zum Teil auch die politischen, sind von dem
Einsatz eines Rituals kaum zu trennen, welches für die spre-chenden
Subjekte sowohl die besonderen Eigenschaften wie die allgemein anerkannten
Rollen bestimmt. Ein teilweise abweichendes Funktionieren zeigen die 'Dis-kursgesellschaften',
welche die Aufgabe haben, Diskurse aufzubewahren oder zu produzieren, um sie in
einem ge-schlossenen Raum zirkulieren zu lassen und sie nur nach be-stimmten
Regeln zu verteilen, so daß die Inhaber bei dieser Verteilung nicht
enteignet werden. Ein archaisches Modell bilden jene Gruppen von Rhapsoden,
welche die Kenntnis der Dichtungen besaßen, die vorzutragen oder auch zu
verän-dern waren. Diese Kenntnis, die einem rituellen Vortrag diente, wurde
in einer bestimmten Gruppe aufgrund außer-ordentlicher
Gedächtnisleistungen geschützt, verteidigt, be-wahrt. Wer sich diese
Kenntnis aneignete, trat damit sowohl in eine Gruppe wie in ein Geheimnis ein,
das durch den Vor-trag zwar offenbart, aber nicht entweiht wurde. Zwischen dem
Sprechen und dem Hören waren die Rollen nicht aus-tauschbar.
27
Gewiß ist von derartigen
'Diskursgesellschaften' mit ihrem zweideutigen Spiel von Geheimhaltung und
Verbreitung kaum etwas geblieben. Aber man täusche sich nicht. Selbst im
Bereich des wahren Diskurses, selbst im Bereich des veröf-fentlichten und
von allem Ritual freien Diskurses, gibt es noch Aneignung von Geheimnis und
Nicht-Austauschbar-keit. Der Akt des Schreibens, wie er heute im Buch, im Ver-lagswesen
und in der Persönlichkeit des Schriftstellers institu-tionalisiert ist,
findet in einer 'Diskursgesellschaft' statt, die vielleicht diffus, gewiß
jedoch zwingend und einschränkend ist. Die Besonderheit des
Schriftstellers, die von ihm selber gegenüber der Tätigkeit jedes
anderen sprechenden oder schreibenden Subjekts hervorgehoben wird, der
intransitive Charakter, den er seinem Diskurs verleiht, die fundamentale
Einzigartigkeit, die er seit langem dem 'Schreiben' zu-spricht, die behauptete
Asymmetrie zwischen dem 'Schaf-fen' und irgendeinem anderen Einsatz des
sprachlichen Sy-stems - all dies verweist in der Formulierung (und wohl auch in
der Praxis) auf die Existenz einer gewissen 'Diskursgesell-schaft'. Aber es
gibt noch viele andere, die in ganz anderer Weise, nach ganz anderen
Spielregeln von Ausschließung und Verbreitung funktionieren: man denke an
das technische oder wissenschaftliche Geheimnis; man denke daran, wie der me-dizinische
Diskurs verbreitet wird und zirkuliert, man denke an jene, die sich den
ökonomischen oder politischen Diskurs angeeignet haben.
Auf den ersten Blick bilden die
(religiösen, politischen, philo-sophischen) 'Doktrinen' das Gegenteil von
'Diskursgesell-schaften' : bei diesen tendiert die Zahl der sprechenden Indivi-duen,
auch wenn sie nicht fixiert ist, dazu, begrenzt zu sein, und nur unter diesen
Individuen kann der Diskurs zirkulieren und weitergegeben werden. Hingegen
tendiert die Doktrin dazu, sich auszubreiten. Durch die gemeinsame Verbindlich-keit
eines einzigen Diskursensembles definieren Individuen, wie zahlreich man sie
sich auch vorstellen mag, ihre Zusam-mengehörigkeit. Anscheinend ist die
einzige erforderliche
28
Bedingung die Anerkennung derselben
Wahrheiten und die Akzeptierung einer - mehr oder weniger strengen - Regel der Übereinstimmung
mit den für gültig erklärten Diskursen. Wären sie nur das,
so wären die Doktrinen von den wissen-schaftlichen Disziplinen nicht so
sehr verschieden, und die diskursive Kontrolle beträfe nur die Form und
den Inhalt der Aussage, nicht auch das sprechende Subjekt. Aber die Zuge-hörigkeit
zu einer Doktrin geht sowohl die Aussage wie das sprechende Subjekt an - und
zwar beide in Wechselwirkung. Durch die Aussage und von der Aussage her stellt
sie das spre-chende Subjekt in Frage, wie die Ausschließungsprozeduren
und die Verwerfungsmechanismen beweisen, die einsetzen, wenn ein sprechendes
Subjekt eine oder mehrere unzulässige Aussagen gemacht hat; Häresie
und Orthodoxie sind nicht fanatische Übertreibungen der Doktrinmechanismen
: sie ge-hören wesenhaft zu ihnen. Aber umgekehrt stellt die Doktrin die
Aussagen von den sprechenden Subjekten aus in Frage, sofern die Doktrin immer
als Zeichen, Manifestation und In-strument einer vorgängigen
Zugehörigkeit gilt - einer Klas-senzugehörigkeit, eines gesellschaftlichen
oder rassischen Status, einer Nationalität oder einer
Interessengemeinschaft, einer Zusammengehörigkeit in Kampf, Aufstand,
Wider-stand oder Beifall. Die Doktrin bindet die Individuen an be-stimmte
Aussagetypen und verbietet ihnen folglich alle ande-ren; aber sie bedient sich
auch gewisser Aussagetypen, um die Individuen miteinander zu verbinden und sie
dadurch von allen anderen abzugrenzen. Die Doktrin führt eine zweifache
Unterwerfung herbei: die Unterwerfung der sprechenden Subjekte unter die
Diskurse und die Unterwerfung der Dis-kurse unter die Gruppe der sprechenden
Individuen. In einem viel größeren Maßstab muß man
schließlich tiefe Spaltungen in der gesellschaftlichen Aneignung der
Diskurse feststellen. Die Erziehung mag de jure ein Instrument sein, das in
einer Gesellschaft wie der unsrigen jedem Individuum den Zugang zu jeder Art
von Diskurs ermöglicht - man weiß jedoch, daß sie in ihrer
Verteilung, in dem, was sie erlaubt,
29
und in dem, was sie verhindert, den
Linien folgt, die von den gesellschaftlichen Unterschieden, Gegensätzen
und Kämpfen gezogen sind. Jedes Erziehungssystem ist eine politische Me-thode,
die Aneignung der Diskurse mitsamt ihrem Wissen und ihrer Macht
aufrechtzuerhalten oder zu verändern. Ich bin mir darüber im klaren,
daß es sehr abstrakt ist, wie ich es eben getan habe, die Rituale des
Sprechens, die Diskursge-sellschaften, die Doktringruppen und die
gesellschaftlichen Aneignungen zu trennen. Zumeist verbinden sie sich mitein-ander
und bilden große Gebäude, welche die Verteilung der sprechenden
Subjekte auf die verschiedenen Diskurstypen und die Aneignung der Diskurse
durch bestimmte Katego-rien von Subjekten sicherstellen. Es handelt sich hier,
mit einem Wort, um die großen Prozeduren der Unterwerfung des Diskurses. Was
ist denn eigentlich ein Unterrichtssystem - wenn nicht eine Ritualisierung des
Wortes, eine Qualifizie-rung und Fixierung der Rollen für die sprechenden
Subjekte, die Bildung einer zumindest diffusen doktrinären Gruppe, eine
Verteilung und Aneignung des Diskurses mit seiner Macht und seinem Wissen ? Was
ist denn das 'Schreiben' (das Schreiben der 'Schriftsteller') anderes als ein
ähnliches Un-terwerfungssystem, das vielleicht etwas andere Formen an-nimmt,
dessen große Skandierungen aber analog verlaufen? Sind nicht auch das
Gerichtssystem und das institutionelle System der Medizin, zumindest unter
gewissen Aspekten, ähnliche Systeme zur Unterwerfung des Diskurses ?
Ich frage mich, ob sich nicht gewisse
Themen der Philosophie als Antworten auf diese Einschränkungs- und
Ausschließungsspiele gebildet haben und sie vielleicht auch verstär-ken.
Sie antworten ihnen, indem sie eine
ideale Wahrheit als Ge-setz der Diskurse und eine immanente Rationalität
als Prinzip ihrer Abfolge vorschlagen und indem sie eine Ethik der Er-kenntnis
begründen, welche die Wahrheit nur dem Begehren
30
nach der Wahrheit selbst und allein
der Fähigkeit, sie zu den-ken, verspricht.
Aber sie verstärken sie dann
auch, indem sie die spezifische Realität des Diskurses überhaupt
leugnen. Seitdem die Spiele und die Geschäfte der Sophisten verbannt
worden sind, seitdem man ihren Paradoxen mit mehr oder weniger Gewißheit
einen Maulkorb angelegt hat, scheint das abendländische Denken
darüber zu wachen, daß der Diskurs so wenig Raum wie nur möglich
zwischen dem Denken und der Sprache einnehme; es scheint darüber zu
wachen, daß der Diskurs lediglich als Kontaktglied zwischen dem Denken
und dem Sprechen erscheine; daß er nichts anderes sei als ein Denken, das
mit seinen Zeichen bekleidet und von den Wör-tern sichtbar gemacht wird,
oder als die Strukturen der Spra-che, die einen Sinneffekt herbeiführen
können. Diese sehr alte Eliminierung der Realität des Diskurses im
philosophischen Denken hat im Laufe der Geschichte viele Formen angenommen.
Noch in jüngster Zeit findet man sie -verborgen unter einigen
wohlbekannten Gedanken. Es könnte sein, daß der Gedanke des
begründenden Subjekts es erlaubt, die Realität des Diskurses zu
übergehen. Das be-gründende Subjekt hat ja die Aufgabe, die leeren
Formen der Sprache mit seinen Absichten unmittelbar zu beleben; indem es die
träge Masse der leeren Dinge durchdringt, ergreift es in der Anschauung
den Sinn, der darin verwahrt ist; es begrün-det auch über die Zeit
hinweg Bedeutungshorizonte, welche die Geschichte dann nur mehr entfalten
muß und in denen die Sätze, die Wissenschaften, die Deduktionen ihr
Fundament finden. In seinem Bezug zum Sinn verfügt das begründende
Subjekt über Zeichen, Male, Spuren, Buchstaben. Aber es muß zu seiner
Offenbarung nicht den Weg über die beson-dere Instanz des Diskurses
nehmen.
Diesem Thema steht der Gedanke der
ursprünglichen Erfah-rung gegenüber, der eine analoge Rolle spielt.
Er setzt voraus, daß in der rohen Erfahrung, noch vor ihrer Fassung in
einem cogito, vorgängige, gewissermaßen schon gesagte
Bedeutun-
31
gen die Welt durchdrungen haben, sie
um uns herum ange-ordnet und von vornherein einem ursprünglichen Wiederer-kennen
geöffnet haben. Eine erste Komplizenschaft mit der Welt begründet uns
so die Möglichkeit, von ihr und in ihr zu sprechen, sie zu bezeichnen und
zu benennen, sie zu beurtei-len und schließlich in der Form der Wahrheit
zu erkennen. Was kann der Diskurs dann legitimerweise anderes sein als ein
behutsames Lesen? Die Dinge murmeln bereits einen Sinn, den unsere Sprache nur
noch zu heben braucht; und diese Sprache sprach uns ja immer schon von einem
Sein, dessen Gerüst sie gleichsam ist.
Das Thema der universellen Vermittlung
ist, so glaube ich, eine weitere Methode, die Realität des Diskurses zu
eliminie-ren. Dies widerspricht dem Anschein. Denn auf den ersten Blick
könnte man meinen, daß man, wenn man überall die Bewegung eines
Logos wiederfindet, der die Einzelheiten zum Begriff erhebt und dem
unmittelbaren Bewußtsein er-laubt, schließlich die gesamte
Realität der Welt zu entfalten, daß man dann eigentlich den Diskurs
selbst ins Zentrum der Spekulation stellt. Aber dieser Logos ist genau besehen
bloß ein bereits gehaltener Diskurs, oder vielmehr, es sind die Dinge
selbst und die Ereignisse, die sich unmerklich zu Dis-kursen machen, indem sie
das Geheimnis ihres eigenen We-sens entfalten. Der Diskurs ist kaum mehr als
die Spiegelung einer Wahrheit, die vor ihren eigenen Augen entsteht. Alles kann
schließlich die Form des Diskurses annehmen, es läßt sich
alles sagen und der Diskurs läßt sich zu allem sagen, weil alle
Dinge ihren Sinn manifestiert und ausgetauscht haben und wieder in die stille
Innerlichkeit des Selbstbewußtseins zurückkehren können.
Ob es sich nun um eine Philosophie des
begründenden Sub-jekts handelt oder um eine Philosophie der
ursprünglichen Erfahrung oder um eine Philosophie der universellen Ver-mittlung
- der Diskurs ist immer nur ein Spiel: ein Spiel des Schreibens im ersten Fall,
des Lesens im zweiten oder des Tauschs im dritten. Und dieses Tauschen, dieses
Lesen, dieses
32
Schreiben spielen immer nur mit den
Zeichen. Der Diskurs verliert so seine Realität, indem er sich der Ordnung
des Si-gnifikanten unterwirft.
Welche Zivilisation hat denn, allem
Anschein nach, mehr als die unsrige Respekt vor dem Diskurs gehabt ? Wo hat man
ihn besser geehrt und hochgehalten ? Wo hat man ihn denn radi-kaler von seinen
Einschränkungen befreit und ihn verallge-meinert ? Nun, mir scheint,
daß sich unter dieser offensicht-lichen Verehrung des Diskurses, unter
dieser offenkundigen Logophilie, eine Angst verbirgt. Es hat den Anschein,
daß die Verbote, Schranken, Schwellen und Grenzen die Aufgabe ha-ben, das
große Wuchern des Diskurses zumindest teilweise zu bändigen, seinen
Reichtum seiner größten Gefahren zu entkleiden und seine Unordnung
so zu organisieren, daß das Unkontrollierbarste vermieden wird; es sieht
so aus, als hätte man auch noch die Spuren seines Einbruchs in das Denken
und in die Sprache verwischen wollen. Es herrscht zweifellos in unserer Gesellschaft
- und wahrscheinlich auch in allen an-deren, wenn auch dort anders profiliert
und skandiert - eine tiefe Logophobie, eine stumme Angst vor jenen Ereignissen,
vor jener Masse von gesagten Dingen, vor dem Auftauchen all jener Aussagen, vor
allem, was es da Gewalttätiges, Plötz-liches, Kämpferisches,
Ordnungsloses und Gefährliches gibt, vor jenem großen
unaufhörlichen und ordnungslosen Rau-schen des Diskurses.
Will man diese Angst in ihren
Bedingungen, in ihren Spielre-geln und ihren Wirkungen analysieren (ich spreche
nicht da-von, diese Angst zu beseitigen), so muß man sich, glaube ich, zu
drei Entscheidungen durchringen, denen unser Denken heute noch einigen
Widerstand entgegensetzt und die den drei angedeuteten Gruppen von Funktionen
entsprechen: man muß unseren Willen zur Wahrheit in Frage stellen; man
muß dem Diskurs seinen Ereignischarakter zurückgeben; endlich
muß man die Souveränität des Signifikanten auf-heben.
33
Dies sind die Aufgaben oder vielmehr
einige der Themen, welche meine Arbeit in den kommenden Jahren bestimmen
sollen. Es lassen sich gleich einige von diesen Themen erfor-derte methodische
Grundsätze nennen. Zunächst ein Prinzip der Umkehrung. Wo uns
die Tradition die Quelle der Diskurse, das Prinzip ihres Überflusses und
ihrer Kontinuität sehen läßt, nämlich in den anscheinend
so positiven Figuren des Autors, der Disziplin, des Willens zur Wahrheit,
muß man eher das negative Spiel einer Beschnei-dung und Verknappung des
Diskurses sehen. Sind diese Verknappungsprinzipien einmal ausfindig ge-macht,
und betrachtet man sie nicht mehr als begründende und schöpferische
Instanz - was entdeckt man unter ihnen ? Findet man die Fülle einer Welt
von ununterbrochenen Dis-kursen? Hier müssen andere methodische Prinzipien
zur Geltung kommen.
Ein Prinzip der Diskontinuität.
Daß es Verknappungssy-steme gibt, bedeutet nicht, daß unterhalb
oder jenseits ihrer ein großer, unbegrenzter, kontinuierlicher und
schweigsamer Diskurs herrscht, der von diesen Verknappungssystemen un-terdrückt
oder verdrängt wird und den wir wieder emporhe-ben müssen, indem wir
ihm endlich das Wort erteilen. Es geht nicht darum, ein Nicht-Gesagtes oder ein
Nicht-Gedachtes endlich zu artikulieren oder zu denken, indem man die Welt
durchläuft und an alle ihre Formen und alle ihre Ereignisse anknüpft.
Die Diskurse müssen als diskontinuierliche Prak-tiken behandelt werden,
die sich überschneiden und manch-mal berühren, die einander aber auch
ignorieren oder aus-schließen.
Ein Prinzip der Spezifizität. Der
Diskurs ist nicht in ein Spiel von vorgängigen Bedeutungen
aufzulösen. Wir müssen uns nicht einbilden, daß uns die Welt
ein lesbares Gesicht zuwen-det, welches wir nur zu entziffern haben. Die Welt
ist kein Komplize unserer Erkenntnis. Es gibt keine prädiskursive
Vorsehung, welche uns die Welt geneigt macht. Man muß den Diskurs als
eine Gewalt begreifen, die wir den Dingen antun;
34
jedenfalls als eine Praxis, die wir
ihnen aufzwingen. In dieser Praxis finden die Ereignisse des Diskurses das
Prinzip ihrer Regelhaftigkeit.
Die vierte Regel ist die der Äußerlichkeit.
Man muß nicht vom Diskurs in seinen inneren und verborgenen Kern ein-dringen,
in die Mitte eines Denkens oder einer Bedeutung, die sich in ihm manifestieren.
Sondern vom Diskurs aus, von seiner Erscheinung und seiner Regelhaftigkeit aus,
muß man auf seine äußeren Möglichkeitsbedingungen
zugehen; auf das, was der Zufallsreihe dieser Ereignisse Raum gibt und ihre
Grenzen fixiert.
Vier Begriffe müssen demnach der
Analyse als regulative Prinzipien dienen: die Begriffe des Ereignisses, der
Serie, der Regelhaftigkeit, der Möglichkeitsbedingung. Jeder dieser Be-griffe
setzt sich jeweils einem anderen genau entgegen: das Ereignis der
Schöpfung, die Serie der Einheit, die Regelhaf-tigkeit der
Ursprünglichkeit, die Möglichkeitsbedingung der Bedeutung. Diese vier
anderen Begriffe (Bedeutung, Ur-sprünglichkeit, Einheit, Schöpfung)
haben die traditionelle Geschichte der Ideen weitgehend beherrscht, in der man
übereinstimmend den Augenblick der Schöpfung, die Einheit eines
Werks, einer Epoche oder eines Gedankens, das Siegel einer individuellen
Originalität und den unendlichen Schatz verborgener Bedeutungen suchte.
Ich möchte nur noch zwei
Bemerkungen anfügen. Die eine betrifft die Geschichtsschreibung. Man
behauptet häufig von der heutigen Historié, daß sie die einstigen Privilegien des einzelnen
Ereignisses aufgehoben und die Strukturen der lan-gen Dauer zur Erscheinung
gebracht habe. Gewiß. Doch bin ich nicht sicher, daß die Arbeit der
Historiker genau in diese Richtung geht. Oder vielmehr, ich glaube nicht,
daß zwi-schen dem Ausfindigmachen des Ereignisses und der Analyse der
langen Dauer ein Gegensatz besteht. Gerade indem man sich auch den geringsten
Ereignissen zugewendet hat, indem man die Erhellungskraft der historischen
Analyse bis in die Marktberichte hinein, in die notariellen Urkunden, in die
35
Pfarregister, in die Hafenarchive
vorangetrieben hat, die Jahr für Jahr, Woche für Woche verfolgt
werden, hat man jenseits der Schlachten, der Dekrete, der Dynastien oder der
Ver-sammlungen massive Phänomene von jahrhundertelanger Tragweite in den
Blick bekommen. Die Historié, wie sie heute betrieben wird, kehrt sich nicht von den Ereignissen ab; sie
erweitert vielmehr ständig deren Feld; sie deckt im-merzu neue Schichten
auf, oberflächlichere und tiefere; sie bildet ständig neue
Gruppierungen, in denen sie manchmal zahlreich, dicht und austauschbar,
manchmal knapp und ent-scheidend sind: von den fast täglichen
Preisschwankungen bis zu den epochalen Inflationen. Das Wichtige aber ist,
daß die Geschichtsschreibung kein Ereignis betrachtet, ohne die Serie zu
definieren, der es angehört, ohne die Analyse zu spe-zifizieren, durch
welche die Serie konstituiert ist, ohne die Regelhaftigkeit der Phänomene
und die Wahrscheinlichkeits-werte ihres Auftretens zu erkennen zu suchen, ohne
sich über die Variationen, die Wendungen und den Verlauf der Kurve zu
fragen, ohne die Bedingungen bestimmen zu wollen, von denen sie abhängen.
Gewiß sucht die Historié seit langem nicht mehr, die Ereignisse in der formlosen Einheit eines gro-ßen
- einigermaßen homogenen und starr hierarchisierten -Werdens, in der
Relation von Ursache und Wirkung, zu ver-stehen; aber es geht auch nicht darum,
Strukturen zu finden, die dem Ereignis vorausliegen, ihm fremd und feindlich
sind. Es gilt, die verschiedenen, verschränkten, oft divergierenden, aber
nicht autonomen Serien zu erstellen, die den 'Ort' des Ereignisses, den
Spielraum seiner Zufälligkeit, die Bedingun-gen seines Auftretens
umschreiben lassen. Die grundlegenden Begriffe, die sich jetzt aufdrängen,
sind nicht mehr diejenigen des Bewußtseins und der Kontinuität (mit
den dazugehörigen Problemen der Freiheit und der Kau-salität), es
sind auch nicht die des Zeichens und der Struktur. Es sind die Begriffe des
Ereignisses und der Serie, mitsamt dem Netz der daran anknüpfenden
Begriffe : Regelhaftigkeit, Zufall, Diskontinuität, Abhängigkeit,
Transformation. Un-
36
ter solchen Umständen schließt
sich die Analyse des Diskur-ses, an die ich denke, nicht an die traditionelle
Thematik an, die gestrige Philosophen noch immer für 'lebendige' Histo-rié halten, sondern an die
wirkliche Arbeit der Historiker. Gerade deswegen wirft diese Analyse aber auch
philo-sophische oder theoretische Probleme auf, die wahrschein-lich sehr
schwierig sind. Wenn die Diskurse zunächst als Ensembles diskursiver
Ereignisse behandelt werden müssen -welcher Status ist dem Begriff des
Ereignisses zuzusprechen, der vor den Philosophen so selten in Betracht gezogen
wor-den ist ? Gewiß ist das Ereignis weder Substanz noch Akzi-dens, weder
Qualität noch Prozeß; das Ereignis gehört nicht zur Ordnung der
Körper. Und dennoch ist es keineswegs im-materiell, da es immer auf der
Ebene der Materialität wirksam ist, Effekt ist; es hat seinen Ort und
besteht in der Beziehung, der Koexistenz, der Streuung, der
Überschneidung, der An-häufung, der Selektion materieller Elemente;
es ist weder der Akt noch die Eigenschaft eines Körpers; es produziert
sich als Effekt einer materiellen Streuung und in ihr. Sagen wir, daß
sich die Philosophie des Ereignisses in der auf den ersten Blick paradoxen
Richtung eines Materialismus des Unkörperlichen bewegen müßte.
Wenn die diskursiven Ereignisse in
homogenen, aber zu-einander diskontinuierlichen Serien behandelt werden
müs-sen - welcher Status ist dann diesem Diskontinuierlichen zuzusprechen
? Es handelt sich dabei ja nicht um die Aufeinan-derfolge der Augenblicke der
Zeit und nicht um die Vielzahl der verschiedenen denkenden Subjekte. Es handelt
sich um die Zäsuren, die den Augenblick zersplittern und das Subjekt in
eine Vielzahl möglicher Positionen und Funktionen zerrei-ßen. Eine
solche Diskontinuität trifft und zersetzt auch noch die kleinsten
Einheiten, die immer anerkannt worden sind und nur schwer zu bestreiten sind:
den Augenblick und das Subjekt. Unter ihnen, unabhängig von ihnen, sind
zwischen jenen diskontinuierlichen Serien Beziehungen zu erfassen, die nicht
Abfolge (oder Gleichzeitigkeit) in einem (oder in
37
mehreren) Bewußtsein meinen;
außerhalb der Philosophien des Subjekts und der Zeit ist eine Theorie der
diskontinuier-lichen Systematizitäten auszuarbeiten. Und wenn diese dis-kursiven
und diskontinuierlichen Serien innerhalb gewisser Grenzen jeweils ihre eigene
Regelhaftigkeit haben, so lassen sich zwischen ihren Elementen zweifellos keine
Beziehungen einer mechanischen Kausalität oder einer idealen Notwendig-keit
herstellen. Der Zufall muß als Kategorie in die Produk-tion des
Ereignisses eingehen. Auch hier wird deutlich, daß es keine Theorie gibt,
welche die Beziehungen zwischen dem Zufall und dem Denken zu denken
ermöglicht. Die geringfügige Verschiebung, die hier für die
Geschichte der Ideen vorgeschlagen wird und die darin besteht, daß man
nicht Vorstellungen hinter den Diskursen behandelt, sondern Diskurse als
geregelte und diskrete Serien von Ereignissen -diese winzige Verschiebung ist
vielleicht so etwas wie eine kleine (und widerwärtige) Maschinerie, welche
es erlaubt, den Zufall, das Diskontinuierliche und die Materialität
in die Wurzel des Denkens einzulassen. Drei Gefahren, die eine be-stimmte
Form der Historié
zu bannen
versucht, indem sie das kontinuierliche Ablaufen einer idealen Notwendigkeit er-zählt.
Drei Begriffe, mit denen sich an die Praxis der Histori-ker eine Geschichte der
Denksysteme anknüpfen lassen müßte. Drei Richtungen, denen die
theoretische Ausarbei-tung wird folgen müssen.
Entsprechend diesen Prinzipien und
innerhalb dieses Hori-zonts werden sich meine Analysen in zwei Richtungen bewe-gen.
Einerseits die 'Kritik', welche das Prinzip der Umkeh-rung zur Geltung bringt:
es soll versucht werden, die Formen der Ausschließung, der
Einschränkung, der Aneignung, von denen ich eben gesprochen habe, zu
erfassen; es soll gezeigt werden, wie sie sich gebildet haben, um bestimmten
Bedürf-nissen zu entsprechen, wie sie sich verändert und verschoben
haben, welchen Zwang sie tatsächlich ausgeübt haben, in wie-
38
weit sie abgewendet worden sind. Auf
der anderen Seite die 'Genealogie', in der die drei anderen Prinzipien zur
Geltung kommen: es soll untersucht werden, wie sich durch diese Zwangssysteme
hindurch (gegen sie oder mit ihrer Unterstüt-zung) Diskursserien gebildet
haben; welche spezifischen Normen und welche Erscheinungs-, Wachstums- und
Verän-derungsbedingungen eine Rolle gespielt haben. Zunächst zur
kritischen Richtung. Eine erste Gruppe von Analysen könnte sich mit dem
befassen, was ich die Aus-schließungsfunktionen genannt habe. Eine davon
habe ich für einen bestimmten Zeitraum bereits untersucht: es handelte
sich um die Grenzziehung zwischen Wahnsinn und Vernunft in der Epoche der
Klassik. Dann könnte man das System eines Sprechverbots zu analysieren
versuchen : das Sprechver-bot, welches vom 16. bis zum 19. Jahrhundert die Sexualität
betraf; dabei gälte es nicht zu sehen, wie es sich glücklicher-weise
fortschreitend verflüchtigt hat, sondern wie es sich ver-schoben und
neugegliedert hat - von einer Beichtpraxis, in der die verbotenen
Verhaltensweisen ausdrücklich benannt, klassifiziert und hierarchisiert
wurden, bis zum zunächst ängstlichen und zögernden Eintritt der
sexuellen Thematik in die Medizin und in die Psychiatrie des 19.Jahrhunderts;
es sind das nur mehr oder weniger symbolische Anhaltspunkte, aber es
läßt sich schon vermuten, daß die Skandierungen nicht so
verlaufen, wie man glaubt, und daß die Verbote nicht im-mer dort
stattgefunden haben, wo man es sich vorstellt. In der nächsten Zeit
möchte ich mich dem dritten Ausschlie-ßungssystem widmen. Und zwar
möchte ich es unter zwei Blickwinkeln anvisieren. Einesteils werde ich
analysieren, wie jene Entscheidung zur Wahrheit, in der wir gefangen sind und
die wir ständig erneuern, zustande gekommen ist, wie sie wiederholt,
erneuert und verschoben worden ist. Zunächst werde ich auf die Epoche der
Sophistik und ihrer Debatte mit Sokrates beziehungsweise mit der Platonischen
Philosophie eingehen, um zu sehen, wie sich der wirksame Diskurs, der rituelle
Diskurs, der mit Mächten und Gefahren ausgestattete
39
Diskurs, allmählich der
Grenzziehung zwischen wahrem und falschem Diskurs untergeordnet hat. Ich werde
mich dann dem Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert zuwenden, je-ner
Epoche, in der, vor allem in England, eine Wissenschaft des Blicks, der
Beobachtung, der Feststellung entsteht, eine bestimmte Naturphilosophie, die
von neuen politischen Strukturen ebensowenig zu trennen ist wie von der
religiösen Ideologie: eine neue Form des Willens zum Wissen. Der dritte
Markierungspunkt wird schließlich der Anfang des 19. Jahrhunderts sein,
mit den großen Gründungsakten der modernen Wissenschaft, der
Entstehung einer Industriege-sellschaft und der sie begleitenden
positivistischen Ideologie. Drei Einschnitte in der Morphologie unseres Willens
zum Wissen - drei Etappen unseres Philistertums. Ich möchte dieselbe Frage
auch unter einem anderen Blick-winkel aufwerfen und die Wirkung eines Diskurses
mit wis-senschaftlichem Anspruch - des medizinischen, psychiatri-schen, auch
des soziologischen Diskurses - auf jene Gruppe von gebieterischen Praktiken und
Diskursen untersuchen, die das System der Strafjustiz ausmachen. Die Analyse
der psychiatrischen Gutachten und ihrer Rolle im Strafsystem wird den
Ausgangspunkt und das Material dieser Unter-suchung bilden.
Ebenfalls in dieser kritischen
Perspektive, aber auf einer an-deren Ebene, wären die Prozeduren zur
Einschränkung der Diskurse zu analysieren, von denen ich gerade das
Prinzip des Autors, das des Kommentars und das der wissenschaftlichen Disziplin
genannt habe. In dieser Perspektive lassen sich einige Untersuchungen
anvisieren. Ich denke beispielsweise an eine Analyse zur Geschichte der Medizin
vom 16. bis zum 19. Jahrhundert; dabei ginge es weniger um die Erfassung der
geleisteten Entdeckungen oder der verwendeten Begriffe; vielmehr sollte
begriffen werden, welche Rolle in der Kon-struktion des medizinischen
Diskurses, aber auch in der ge-samten ihn tragenden, weitergebenden und
verstärkenden In-stitution, die Prinzipien des Autors, des Kommentars und
40
der Disziplin gespielt haben; das
Prinzip des großen Autors: nicht nur Hippokrates und Galen, sondern auch Paracelsus, Sydenham und Boerhaave; die Praxis
des Aphorismus und des Kommentars, die bis ins 19. Jahrhundert hineinreicht, aber
allmählich durch die Praxis des Falles, der Fallsamm-lung, der klinischen
Unterweisung am konkreten Fall ver-drängt worden ist; die Art und Weise,
in der sich die Medizin als Disziplin zu konstituieren gesucht hat, indem sie
sich zu-erst aufs Modell der Naturgeschichte gestützt hat, und dann auf
das der Anatomie und der Biologie. Man könnte auch untersuchen, wie die
Literaturkritik und die Literaturgeschichte im 18. und 19. Jahrhundert die Per-sönlichkeit
des Autors und die Gestalt des Werks konstituiert haben, indem sie die
Verfahren der religiösen Exegese, der Bibelkritik, der Hagiographie, der historischen oder legen-dären
Lebensbeschreibungen, der Autobiographien und der Nachrufe verändert und
verschoben haben. Eines Tages wird man auch die Rolle untersuchen müssen,
die Freud im psychoanalytischen Wissen spielt und die sicherlich von der
Newtons in der Physik (und überhaupt von der Rolle der Gründer
wissenschaftlicher Disziplinen) sehr verschieden ist, aber auch von der Rolle,
die ein Autor im Bereich des philo-sophischen Diskurses spielt, indem er etwa
wie Kant am Ur-sprung einer neuen Art und Weise des Philosophierens steht.
Das sind also einige Projekte für
den kritischen Aspekt der Aufgabe, für die Analyse der Instanzen der
diskursiven Kon-trolle. Der genealogische Aspekt betrifft die tatsächliche
Ent-stehung der Diskurse: innerhalb oder außerhalb der Kon-trollgrenzen,
zumeist auf beiden Seiten der Schranken. Die Kritik analysiert die Prozesse der
Verknappung, aber auch der Umgruppierung und Vereinheitlichung der Diskurse;
die Genealogie untersucht ihre Entstehung, die zugleich zer-streut,
diskontinuierlich und geregelt ist. Diese beiden Auf-gaben sind nie ganz zu trennen;
es gibt nicht auf der einen Seite die Verwerfung, die Ausschließung, die
Umgruppie-
41
rung, die Zuteilung und auf der anderen
Seite, auf einer tiefe-ren Ebene, das spontane Auftauchen der Diskurse, die
sich dann vor oder nach ihrer Manifestation der Selektion und der Kontrolle
unterworfen sehen. Die geregelte Entstehung des Diskurses kann unter gewissen
Bedingungen und bis zu einem gewissen Grade die Kontrollprozeduren integrieren
(das geschieht z.B., wenn eine Disziplin Form und Status eines wissenschaftlichen
Diskurses annimmt); umgekehrt können die Kontrollfiguren in eine
diskursive Formation ein-gehen (so konstituiert z.B. die Literaturkritik den
Autor). Darum muß jede Kritik, welche die Kontrollinstanzen in Frage
stellt, gleichzeitig die diskursiven Regelhaftigkeiten analysieren, durch die
hindurch sich jene ausbilden; und jede genealogische Beschreibung muß die
Grenzen im Auge be-halten, die in den tatsächlichen Formationen eine Rolle
spie-len. Zwischen dem kritischen und dem genealogischen Un-ternehmen liegt der
Unterschied nicht so sehr im Gegenstand und im Untersuchungsbereich, sondern im
Ansatzpunkt, in der Perspektive, in der Abgrenzung.
Ich sprach eben von einer
möglichen Untersuchung der Ver-bote, welche den Diskurs über die
Sexualität treffen. Es wäre in jedem Fall schwierig und abstrakt,
diese Untersuchung durchzuführen, ohne gleichzeitig die literarischen, die
reli-giösen oder ethischen, die biologischen und medizinischen und
gleichfalls die juristischen Diskursgruppen zu analysie-ren, in denen von der
Sexualität die Rede ist und in denen diese genannt, beschrieben,
metaphorisiert, erklärt, beurteilt ist. Wir haben ja keinen einheitlichen
und geordneten Dis-kurs über die Sexualität konstituiert; vielleicht
wird man nie-mals dahin gelangen, vielleicht gehen wir gar nicht in diese
Richtung. Dies tut wenig zur Sache. Die Verbote haben im literarischen Diskurs
und im medizinischen Diskurs, im Dis-kurs der Psychiatrie und im Diskurs der
Gewissensführung nicht dieselbe Form und spielen nicht dieselbe Rolle. Und
umgekehrt verstärken oder umgehen oder verschieben diese verschiedenen
diskursiven Regelhaftigkeiten die Verbote
42
nicht in derselben Weise. Die
Untersuchung muß daher ver-schiedenen Serien nachgehen, in denen Verbote
zumindest teilweise jeweils unterschiedlich wirken. Man könnte auch die
Diskursserien betrachten, die im 17. und 18. Jahrhundert von Reichtum und Armut,
von der Währung, von der Produktion, vom Handel sprechen. Man hat es da
mit sehr heterogenen Aussageeinheiten zu tun, die von den Reichen und von den
Armen, von den Gelehrten und von den Unwissenden, von den Protestanten oder von
den Katholiken, von den königlichen Offizieren, den Geschäfts-leuten
oder den Moralisten formuliert worden sind. Eine jede hat ihre spezifische
Regelhaftigkeit und auch ihre Einschrän-kungssysteme. Und keine von ihnen
ist die exakte Vorläufe-rin jener anderen diskursiven Regelhaftigkeit,
welche die Form einer Disziplin annehmen sollte und sich 'Analyse der
Reichtümer', später 'Nationalökonomie' nennen wird. Und dennoch
hat sich von ihnen aus die neue Regelhaftigkeit herangebildet, indem sie
gewisse ihrer Aussagen wiederauf-nahm und rechtfertigte oder ausschloß
und eliminierte. Es läßt sich auch an eine Untersuchung denken,
welche die Diskurse über die Vererbung beträfe, wie man sie bis zum
Beginn des 20. Jahrhunderts auf verschiedene Disziplinen, Beobachtungen,
Techniken und Vorschriften aufgeteilt und zerstreut finden kann. Man
müßte dann zeigen, wie sich diese Serien schließlich zur
epistemologisch kohärenten und insti-tutionell anerkannten Gestalt der
Genetik zusammengefügt haben. Diese Arbeit ist kürzlich von François Jacob geleistet worden, und
zwar so brillant und wissenschaftlich, daß sie nicht zu übertreffen
wäre.
So müssen sich also die
kritischen Beschreibungen und die genealogischen Beschreibungen abwechseln,
stützen und er-gänzen. Der kritische Teil der Analyse zielt auf die
Systeme, die den Diskurs umschließen; er versucht, die Aufteilungs-,
Ausschließungs- und Knappheitsprinzipien des Diskurses aufzufinden und zu
erfassen. Wir könnten sagen, die Kritik befleißigt sich einer
eifrigen Ungeniertheit. Der genealogi-
43
sÓhe Teil der Analyse zielt
hingegen auf die Serien der tatsäch-lichen Formierung des Diskurses; er
versucht, ihn in seiner Affirmationskraft zu erfassen, worunter ich nicht die
Kraft verstehe, die sich der Verneinung entgegensetzt, sondern die Kraft,
Gegenstandsbereiche zu konstituieren, hinsichtlich deren wahre oder falsche
Sätze behauptet oder verneint wer-den können. Wenn wir diese
Gegenstandsbereiche als Positivitäten bezeichnen, können wir sagen :
ist der Stil der Kritik die gelehrte Ungeniertheit, so ist das Temperament der
Ge-nealogie ein glücklicher Positivismus.
Eines muß auf jeden Fall
unterstrichen werden: die Analyse des so verstandenen Diskurses enthüllt
nicht die Universalität eines Sinnes, sondern sie bringt das Spiel der -
mit der funda-mentalen Kraft der Affirmation - aufgezwungenen Knapp-heit an den
Tag. Knappheit und Affirmation, Knappheit der Affirmation - und nicht
kontinuierliche Großzügigkeit des Sinns, nicht Monarchie des
Signifikanten. Und nun mögen jene, deren Sprache arm ist und die sich an
dem Klang von Wörtern berauschen, sagen, daß das Struk-turalismus
ist.
An die Untersuchungen, deren Umrisse
ich Ihnen vortragen wollte, hätte ich mich gewiß nicht herangewagt,
wenn ich nicht Unterstützungen und Beispiele gehabt hätte. Ich
glaube, daß ich Georges Dumézil viel verdanke, da er mich zur Arbeit angeregt hat, als
ich noch so jung war, zu glauben, daß Schreiben ein Vergnügen ist.
Aber auch seinem Werk ver-danke ich viel; er möge mir verzeihen, wenn ich
die Texte, die die seinen sind und die uns heute beherrschen, von ihrem Sinn
entfernt und ihrer Strenge beraubt habe; er hat mich gelehrt, die innere
Ökonomie eines Diskurses ganz anders zu analy-sieren als mit den Methoden
der traditionellen Exegese oder des linguistischen Formalismus; er hat mich
gelehrt, durch Vergleiche das System der funktioneilen Korrelationen zwi-schen
Diskursen zu etablieren; er hat mich gelehrt, die Trans-
44
formationen eines Diskurses und die
Beziehungen zur Insti-tution zu beschreiben. Wenn ich versucht habe, diese Me-thode
auf andere Diskurse als auf Legenden oder Mythen an-zuwenden, so fand ich die
Anregung dazu zweifellos in den Arbeiten der Wissenschaftshistoriker, vor allem
bei Georges Canguilhem. Ihm verdanke ich es, daß ich verstanden habe,
daß die Wissenschaftsgeschichte nicht unbedingt vor der Al-ternative
steht : entweder die Chronik der Entdeckungen zu sein oder die Beschreibung der
Ideen und Meinungen außer-halb der Wissenschaft - in ihrer unbestimmten
Genese oder in ihren äußerlich bedingten Rückfällen;
sondern daß man die Geschichte der Wissenschaft als die Geschichte eines
zugleich kohärenten und transformierbaren Ganzen aus theoretischen
Modellen und begrifflichen Instrumenten schreiben kann und muß.
Besonders viel aber, glaube ich,
verdanke ich Jean Hippolyte. Ich weiß wohl, daß sein Werk für
viele im Zeichen Hegels steht, und daß unsere gesamte Epoche, sei es in
der Logik oder in der Epistemologie, sei es mit Marx oder mit Nietz-sche, Hegel
zu entkommen trachtet. Und was ich eben über den Diskurs zu sagen
versuchte, ist dem hegelianischen Lo-gos sicherlich untreu.
Aber um Hegel wirklich zu entrinnen,
muß man ermessen, was es kostet, sich von ihm loszusagen; muß man
wissen, wie weit uns Hegel insgeheim vielleicht nachgeschlichen ist; und was in
unserem Denken gegen Hegel vielleicht noch von He-gel stammt; man muß
ermessen, inwieweit auch noch unser Anrennen gegen ihn seine List ist, hinter
der er uns auflauert: unbeweglich und anderswo.
Nicht nur ich schulde Jean Hippolyte
Dank: denn er hat für uns und vor uns den Weg durchlaufen, auf dem man
sich von Hegel entfernt und Distanz nimmt, auf dem man aber auch wieder zu ihm
zurückgeführt wird, allerdings anders und so, daß man ihn von
neuem verlassen muß. Zunächst hatte sich Jean Hippolyte bemüht,
dem großen und etwas gespenstischen Schatten Hegels, der seit dem 19.
Jahr-
45
hundert herumgeisterte und mit dem man
sich im Dunkeln herumschlug, eine Gegenwart zu geben. Er tat dies durch eine
Übersetzung der Phänomenologie des Geistes. Daß He-gel
in diesem französischen Text gegenwärtig ist, beweisen jene
Deutschen, die ihn gelegentlich konsultiert haben, um seine 'deutsche Version'
besser zu verstehen. Jean Hippolyte hat alle Wege und Auswege dieses Textes ge-sucht
und durchlaufen, als wäre seine unruhige Frage gewe-sen: Kann man noch
philosophieren, wo Hegel nicht mehr möglich ist ? Kann es noch eine
Philosophie geben, die nicht mehr hegelianisch ist ? Ist das, was in unserem
Denken nicht hegelianisch ist, notwendigerweise auch nicht philosophisch? Und
ist das, was antiphilosophisch ist, unbedingt nicht-hege-lianisch? Aus der
Gegenwart Hegels, die er uns geschenkt hatte, wollte er nicht nur eine
sorgfältige historische Be-schreibung machen, sondern ein Erfahrungsschema
der Mo-dernität (lassen sich die Wissenschaften, die Geschichte, die
Politik und das Leid des Alltags hegelianisch denken?) und umgekehrt wollte er
aus unserer Modernität den Prüfstein des Hegelianismus und damit der
Philosophie machen. Für ihn war das Verhältnis zu Hegel der Ort einer
Erfahrung, einer Konfrontation, in der niemals feststand, daß die
Philosophie siegreich hervorgehen würde. Er bediente sich des Hegelschen
Systems nicht als eines beruhigenden Universums; er sah in ihm das
äußerste Wagnis der Philosophie. Daher die Verschiebungen, die er
nicht innerhalb der Philo-sophie Hegels, sondern an ihr und an der Philosophie,
wie Hegel sie verstand, vornahm ; daher auch die Umkehrung von Gedanken. Jean
Hippolyte begriff die Philosophie nicht als die Totalität, die sich
endlich in der Bewegung des Begriffs zu denken und zu verfassen vermag, sondern
er machte aus ihr innerhalb eines unbegrenzten Horizonts eine Aufgabe ohne Ende
: immer wach, war seine Philosophie nicht bereit, sich jemals zu vollenden.
Aufgabe ohne Ende, also immer wieder begonnene Aufgabe, der Form und dem
Paradox der Wieder-holung geweiht: die Philosophie als unerreichbares Denken
46
der Totalität war für Jean
Hippolyte das, was es in der äußer-sten Regellosigkeit der Erfahrung
Wiederholbares gab; das, was sich im Leben, im Sterben, im Gedächtnis
immer wieder als Frage stellt und entzieht; so transformierte er den Hegelsehen
Gedanken von der Vollendung des Selbstbewußtseins in den Gedanken der
wiederholt-wiederholenden Frage. Aber da sie für ihn Wiederholung war,
verzichtete die Philo-sophie nicht auf den Begriff; sie hatte kein abstraktes
Ge-bäude zu errichten, sie hielt sich zurück und brach mit den
überlieferten Allgemeinheiten und begab sich in Kontakt mit der
Nicht-Philosophie; sie wandte sich nicht ihrer Vollen-dung zu, sondern dem, was
ihr vorausging und was noch nicht zu ihrer Unruhe erwacht war; um sie zu
denken, nicht um sie zu reduzieren, hat sie die Besonderheit der Ge-schichte,
die regionalen Rationalitäten der Wissenschaft, die Tiefe des
Gedächtnisses im Bewußtsein angefaßt; so erscheint der Gedanke
einer gegenwärtigen, unruhigen Philosophie, die auf der ganzen Linie ihrer
Berührung mit der Nicht-Phi-losophie beweglich ist, nur dank dieser
existiert und uns den Sinn dieser Nicht-Philosophie enthüllt. Wenn die
Philosophie in diesem wiederholten Kontakt mit der Nicht-Philosophie steht -
was ist dann der Anfang der Philosophie ? Ist sie immer schon da, heimlich
gegenwärtig in dem, was sie nicht ist, mit halblauter Stimme im Gemurmel
der Dinge das Wort ergrei-fend? Aber vielleicht hat der philosophische Diskurs
keine Daseinsberechtigung mehr, oder muß er mit einer zugleich absoluten
und willkürlichen Begründung anheben? So wird der Hegeische Gedanke
von der dem Unmittelbaren eigenen Bewegung vom Thema der Begründung des
philosophischen Diskurses und seiner formellen Struktur verdrängt.
Schließlich die letzte Verschiebung, die Jean Hippolyte an der Hegeischen
Philosophie vorgenommen hat: wenn die Philo-sophie als absoluter Diskurs
beginnen muß - was ist dann mit der Geschichte und was ist dann jener
Anfang, der mit einem einzelnen Individuum, in einer Gesellschaft, in einer
gesell-schaftlichen Klasse, inmitten von Kämpfen anfängt ?
47
Diese fünf Verschiebungen, welche
an den äußersten Rand der Hegeischen Philosophie führen, sie
über ihre Grenzen hinaustreiben, beschwören die Hauptgestalten der
modernen Philosophie, welche Jean Hippolyte ständig mit Hegel kon-frontiert
hat: Marx mit den Fragen der Geschichte, Fichte mit dem Problem des absoluten
Anfangs der Philosophie, Kier-kegaard mit dem Problem der Wiederholung und der
Wahr-heit, Husserl
mit dem Thema der
Philosophie als unendlicher Aufgabe, die an die Geschichte unserer
Rationalität gebun-den ist. Und über diese philosophischen Gestalten
hinaus hat Jean Hippolyte viele Wissensbereiche von seinen eigenen Fragen aus
angesprochen: die Psychoanalyse mit der fremden Logik des Begehrens, die
Mathematik und die Formalisierung des Diskurses, die Informationstheorie und
ihre An-wendung in der Analyse des Lebenden - also alle Bereiche, von denen aus
man die Frage nach einer Logik und einer Exi-stenz stellen kann, welche ihre
Verbindungen ständig knüp-fen und wieder auflösen.
Ich denke, daß dieses Werk, das
sich in einigen großen Bü-chern niedergeschlagen hat, aber noch mehr
in Forschungen, in einer Lehrtätigkeit, in einer dauernden Achtsamkeit, in
einer Wachheit und Großzügigkeit des Alltags, in einer admi-nistrativen
und pädagogischen (d. h. in Wirklichkeit zweifach politischen)
Verantwortlichkeit -, ich denke, daß dieses Werk die fundamentalsten
Probleme unserer Zeit getroffen und formuliert hat. Ich gehöre zu den
vielen, die ihm unendlichen Dank schulden.
Ihm verdanke ich zweifellos den Sinn
und die Möglichkeit dessen, was ich tue. Er hat mir oft den Weg gewiesen,
wenn ich bei meinen Versuchen im dunkeln tappte. Darum wollte ich meine Arbeit
unter sein Zeichen stellen und darum wollte ich die Vorstellung meiner Projekte
mit seiner Erwähnung beenden. Auf ihn hin, auf dieses Fehlen - wo ich
zugleich seine Abwesenheit und meine Schwäche spüre - zielen die
Fragen, die ich mir nun stelle. Da ich ihm soviel verdanke, verstehe ich wohl,
daß die Wahl,
48
die Sie getroffen haben, indem Sie
mich eingeladen haben, hier zu lehren, zu einem Gutteil auch eine Ehrung
für ihn ist. Ich danke Ihnen zutiefst für die Ehre, die Sie mir
erwiesen haben, aber ich danke Ihnen nicht weniger für das, was in dieser
Wahl ihm gehört. Wenn ich mich der Aufgabe, ihm nachzufolgen, nicht
gewachsen fühle, so weiß ich doch, daß ich an diesem Abend,
wäre uns dieses Glück vergönnt, von seiner Nachsicht ermutigt
worden wäre. Und nun verstehe ich besser, warum ich eben soviel Schwie-rigkeit
hatte, sogleich anzufangen. Ich weiß auch, welche Stimme es war, von der
ich gewünscht hätte, daß sie mir vor-angeht, daß sie mich
trägt, daß sie mich zum Sprechen einlädt und sich in meinen
eigenen Diskurs einfügt. Ich weiß, warum ich solche Angst hatte, das
Wort zu ergreifen: ich habe das Wort an dem Ort ergriffen, wo ich ihn
gehört habe, und wo er nicht mehr ist, um mich zu hören.
RALF KONERSMANN
Der
Philosoph mit der Maske
Michel Foucaults
Mit dem ihm eigenen Lakonismus
berichtet René
Magritte unter
dem Datum des 2.
Juli 1946 in der
Brüsseler Avant-garde-Zeitschrift Le Suractuel, er habe heute nachmittag in
praller Sonne eine junge Frau gesehen, die in Begleitung ihres Körpers auf
die Straßenbahn wartete.1 Diese kleine Ge-schichte - oder soll
man sagen: diese Beobachtung? - wird ganz nach dem Geschmack Michel Foucaults
gewesen sein. Er hatte seine Freude an den wohlkalkulierten Irritationen des 'peintre-philosophe'. Mit seiner Vorlesung Die Ord-nung
des Diskurses präsentiert er sich nun selbst in einer Rolle, deren
Zweideutigkeit dem bizarren Erscheinungsbild jener Wartenden, von der Magritte
berichtet hat, in nichts nachsteht. Die Ordnung des Diskurses zeigt Foucault als Mei-ster der Texteröffnung.
Bereits mit seinen ersten Worten, die zunächst den Eindruck erwecken, als
müßte der Leser über sie hinweg in den Vortrag erst noch
hineinfinden, ist er beim Thema. Wir bemerken es, indem wir der Aporie dieses
An-fangs innewerden, des ausdrücklichen Wunsches nämlich, nicht
anfangen zu müssen.
Das in diesem Verlangen zum Ausdruck
gebrachte Unbeha-gen gilt offenkundig der durch die Rede hervorgerufenen Si-tuation,
die immer schon da ist, sobald der Redner seine Stimme erhebt. Der absolute, in
die Leere des Raums und der Zeit gesprochene Beginn ist eine Fiktion. Reden
bedeutet mitteilen, und es heißt auch, Beziehungen zu stiften und Po-sitionen
zu besetzen. Dieser Redner, der da zu uns spricht, sperrt sich dagegen,
unversehens als Urheber seiner Aussage identifiziert zu werden. Statt als
Verkünder einer Wahrheit hervortreten zu wollen, sucht er Schutz in seinem
Text, den er, wie wir erfahren, am liebsten durch den Seiteneingang be-treten
hätte.
53
Die Rhetorik solcher Anfänge ist
nicht unbekannt. Naturge-mäß an verborgener Stelle, nämlich in
seinen Cogitationes privatae, hat schon der junge Descartes gestanden, er trete mas-kiert auf:
'Larvatus prodeo.'2 Solchen Fiktionalisierungen vergleichbar ist das
auch in der Philosophie von alters her ge-läufige, gelegentlich auch von Foucault angeführte Verfahren der Prosopopöie,
nämlich die Übertragung der Autorschaft auf einen fiktiven
Erzähler, der stimmführend die Gedanken vorträgt, um das Wort in
der Schwebe zu halten und vor über-eilten Zugriffen zu bewahren. Die
Anlässe und Beweggründe derartiger Verhüllungen freilich
wechseln. Auch bei Foucault ist
die Larve ein Instrument der Subversion, aber seit der Epo-che Descartes', dessen Schriften posthum
indiziert wurden, hat die Macht ihr Erscheinungsbild verändert. Sie ist
gestaltlos geworden und diffus. Dort, wo sie auf der Höhe der Zeit ist,
materialisiert sie sich nicht mehr in offenem Zwang, in Tortur und Vertreibung,
sondern in ungleich feingliedrigeren Mecha-nismen, die so subtil sind,
daß sie, um wirksam zu sein, kaum mehr handgreiflich zu werden brauchen.3
Um so erstaunlicher, daß die irritierende Wirkung der Maske
über die wechselnden Umstände hinweg erhalten geblieben ist. Wer in
der Öffentlichkeit sein Gesicht verhüllt, der ver-letzt auch heute
die Gesetze der Routine ebenso wie die Rou-tine der Gesetze. So war es Foucault ganz und gar gemäß (und
eben damit auf abgründige Weise widersprüchlich), gelegent-lich als 'philosophe masqué' aufzutreten und in einem Inter-view,
das die Tageszeitung Le Monde
im April 1980
veröf-fentlichte, anonym zu bleiben. Erst Jahre später, kurz nach
seinem Tod am 25. Juni
1984, gab die Redaktion die Identität des Befragten preis.
Philosophie, so hatte er seinerzeit
erklärt, sei eine Art, über unser Verhältnis zur Wahrheit
nachzudenken. Der ein-drucksvollen Rhetorik der Verhüllung, in die L'ordre du dis-cours gekleidet ist, liegt genau
dieser Gedanke zugrunde. 'In den Diskurs, den ich heute zu halten habe', so
läßt sich der Sprecher dort vernehmen, 'hätte ich mich gern
verstohlen
54
eingeschlichen' ('j'aurais voulu pouvoir me glisser
subrepti-cement').4 Ort, Zeit und Umstände sind bekannt. Denn mit eben
diesen Worten nimmt Foucault am
2. Dezember 1970 seine Tätigkeit am eigens für ihn eingerichteten
Lehrstuhl für die Geschichte der Denksysteme auf. Doch die Eindeutigkeit
der Daten, so unanfechtbar ihre Präzision auch sein mag, ist
trügerisch. Bereits diese Eröffnung ist beherrscht von jener
unauffällig wirksamen Spannung, die für die Prosa Foucaults
überhaupt bezeichnend ist. Der Vortrag beginnt, indem der Sprecher und
Verfasser des Redemanuskripts sich präsentiert und zurückzieht
zugleich. Vor unseren Augen teilt er sich auf und zerstört die Evidenzen
von Einheit und Identität, die wir ihm unwillkürlich zumessen, wenn
wir sagen: Dort steht Foucault, wir
sehen ihn und hören ihm zu, oder auch: Wir halten sein Buch in
Händen, auf dem Umschlag finden wir den wohlbekannten Namen, wir lesen
seinen Text. Und doch fragen wir uns : Läßt sich das
Augenfällige bestreiten ? Wer ist es, der zu uns spricht, wenn nicht
Michel Foucault? Man kann Foucaults Arbeiten
insbesondere jenes halben Jahrzehnts zwischen 1966 und 1971, vielleicht auch
einige der früheren Schriften zur Literatur als Versuche begreifen, einer
Beantwortung der Frage nach der Verteilung der Kräfte im Text
näherzukommen. Die spielerische, gewiß auch heraus-fordernde
Verweigerung der Autor-Rolle ist dazu nur ein er-ster Schritt. Sie macht ein
Problem bewußt und hält es gleich-zeitig offen, um damit jene
Zuschreibungen zu vermeiden, die bei der Lektüre gemeinhin unmerklich
unterlaufen. Fou-cault
stilisiert die
Ungreifbarkeit des Autors als Befreiung. Sie besteht weniger darin, zu sagen,
was man will (und gegebe-nenfalls dafür einzustehen), als vielmehr darin,
sich von den Bindungen des Textes, seinen Regeln und Zuschreibungen zu
lösen. Gleichwohl bleibt der Sachverhalt mehrdeutig. Was sind die
Beweggründe dieser Lossagung? Ist Foucault auf der Suche nach einer neuen Wahrhaftigkeit, nach einer
von den Trübungen subjektiven Zutuns gereinigten Objektivität? Sind
wir vielleicht aufgefordert zu schweigen, um fortan der
55
Stimme des Logos zu lauschen ? Oder
möchte der Redner, in pointiert neuzeitlicher Wendung, am Ende
zurücktreten, um, befreit von zweifelhaften geschichtsphilosophischen
Spekulationen, ungehindert 'zu den Sachen selbst' vorsto-ßen zu können,
vielleicht, um uns sehen zu lassen, 'wie es eigentlich gewesen' ?5
Beinahe möchte man es glauben.
Tatsächlich hat Foucault -vor
allem in Psychologie und Geisteskrankheit (1954) und in Wahnsinn und
Gesellschaft ( 1961 ) - versucht, an die Stimmen der Marginalisierten, der
Ausgeschlossenen und der Verfem-ten zu erinnern und ihr Verstummen zu
erläutern. Auch die Ordnung des Diskurses spricht vom 'Willen zur
Wahrheit' als einer 'gewaltigen Ausschließungsmaschinerie'6.
Soll es also darum gehen, den Verlierern in der Geschichte gegen die
Widerstände und Repressionen der instrumentellen Vernunft nun endlich
Gehör zu verschaffen ? Foucault ist
gelegentlich als 'radikaler Historist' bezeichnet worden 7, und
daran mag etwas richtig sein. Und doch besteht seine unbestrittene Ra-dikalität
nicht in erster Linie darin, gegen die Vereinnahmun-gen der Vernunft die bunte
Vielfalt der Ereignisse und Bewe-gungen wiederhergestellt zu haben. Man ist gut
beraten, sein zweideutiges Spiel mit der Maske nicht zu unterschätzen. Weder
gehört Foucault
zu denen, die
'ihr Selbst auszu-löschen' wünschen, um 'nur die Dinge reden' zu
lassen8, noch spekuliert er auf die lizenzierte 'Rolle der
maskierten Wahrheit'9. In seinem großen, Jean Hyppolite
gewidmeten Nietzsche-Essay, der wie die Ordnung des Diskurses 1971 er-schien,
spricht Foucault in kühner Inversion von
der 'Maske des Ich'10. Die Verweigerung der Rolle, darin besteht
ihre Paradoxie, gehört längst zum Repertoire.
Die ausgeprägte Rhetorik des
Verbergens und Verschwindens ist schwerlich zu begreifen ohne einen Blick auf
jene Position, die hier außer Kraft gesetzt wird, auf jenen theoretischen
Ent-wurf also, der einst das Ich als Sprecher, und zwar als Spre-cher der
Wahrheit autorisierte.
56
Unumstritten ist diese Form der
Darstellung kaum je gewe-sen. Man hat das Problem der ersten Person im
Gegenteil lange Zeit nicht bloß als eine so oder so entscheidbare
Stil-und Geschmacksfrage behandelt, es wurde vielmehr als Do-kumentation eines
Anspruchs empfunden, der hart an Anma-ßung heranreichte und überdies
unweigerlich den Verdacht der Erkenntnistrübung auf sich zog. So
erklärte Meister Eck-hart in seinen Predigten, 'Ego, das Wort >Ich<'
sei 'nieman-dem eigen als Gott allein in seiner Einheit'11. So
mußte sprechen, wer von dem Gedanken erfüllt war, daß Gott ihm
innerlich näher sei als er sich selbst. Gemessen an dieser
Superiorität gilt das menschliche Ich und selbstverständlich auch das
des Predigers rein gar nichts. Wahr zu sprechen ist das Vorrecht Gottes. Wo
sich der Mensch gleichwohl das 'Ich' herausnimmt, da spricht in Wirklichkeit
nicht er, sondern Gott durch ihn. Noch für die Barockbühne der Romania wird es
selbstverständlich sein, den Titel des 'autor', der das Welttheater
regiert, Gott zu reservieren. Es gibt nur einen Urheber und Schöpfer.
Dieser Vorbehalt folgt der Auffassung Eckharts, wenn er erklärt, sein Sein
hänge daran, daß ihm Gott nahe und gegenwärtig sei. Die Person
des Redners un-terwirft sich hier strikt der Aufgabe, des unsagbar Anderen
innezuwerden. Der ideale Sprecher erscheint als Organ und zieht sich vor
der göttlichen Autorität so weit wie möglich zurück - um
den uneinholbaren Abstand zum Schöpfer zu wahren, aber auch, um die
Botschaft möglichst rein erklingen zu lassen.
Doch war diese Scheu gegenüber
dem Ich-Sagen keineswegs nur religiös bestimmt. Der Artikel 'Humeur', den der calvinistische Pastor
Jacob Vernes für die Encyclopédie geschrie-ben hatte, veranlaßte Voltaire Ende 1757 zu der brieflichen
Beschwerde gegenüber dem Mitherausgeber d'Alembert, mancher der Mitarbeiter
suche sich eine Nische in diesem Pantheon zu sichern, also mit seinem Text
unsterblich zu werden. 'Man erlaubt sich, ich und mein zu
schreiben in Ih-rem Wörterbuch. Ach, wie ärgert es mich, so viel
Straß neben
57
Ihren schönen Diamanten zu
finden!'12 Gewiß läßt auch Vol-taire keinerlei
Zweifel daran, daß die Stimme des Autors nötig sei, um Erfahrenes
und Gedachtes festzuhalten. Sobald ihm dies aber einmal gelungen ist, soll der
Sprecher dem Ethos des Aufklärers zufolge hinter das Gesagte
zurücktreten. Der Ver-fasser hat im Idealfall Zeuge zu sein und
sich der Autorität der Sache zu beugen. Seine Endlichkeit und
Beschränktheit, die Kontingenz seiner Individualität
beeinträchtigt nur die Zeitlosigkeit von Einsichten und Erkenntnissen, die
als Gemein-und Gattungsgut zu betrachten sind. Rückverweise auf die Person
des Verfassers, auf den, wie Voltaire 1759 an die Mar-quise Du Deffant schreibt, 'vain nom d'auteur'13,
sind in einem
solchen Kontext entbehrlich, ja sie sind widersinnig und störend. Wo es
den ganzen Schatz des Wissens darzubie-ten gilt, hat die Einzelstimme
stillzuschweigen. Zur Zeit der französischen Aufklärung, die mit dem
Projekt der Encyclopédie
zweifellos
einen ihrer literarischen Höhe-punkte erreichte, hatten sich die Gewichte
jedoch bereits deut-lich verlagert. Zunächst vereinzelt und zum
Jahrhundertende dann immer vernehmlicher beanstandete man die Kälte der
Abstraktion. Ihre vollkommene Stille, schrieb Rousseau im fünften Teil
seiner Rêveries,
sei ein
Abbild des Todes. Diesem Befund war eine folgenreiche Verschiebung des
Erkenntnis-ideals vorausgegangen. Es war nicht mehr selbstverständlich
anzunehmen, die Wahrheit werde sich, wie die Aristoteliker es erwartet hatten,
den Menschen von selbst kundtun. Man ging vielmehr davon aus, daß die Wahrheit
sei's gewaltsam, sei's durch gutes Zureden ans Licht gezogen und entschleiert
wer-den müsse. Wissen galt als Resultat einer tatkräftigen Ausein-andersetzung
mit dem Erkenntnisobjekt, das nun als Gegen-stand, nämlich als widerständig
erfahren wurde. Zu derjenigen Instanz aber, die diese Prozeduren durchzu-führen
und zu verantworten hatte, wurde das verständige, das beobachtende und
sprechende Ich ernannt. Es war Des-cartes, der diese Grundlegung für alle Bereiche des Wissens
verbindlich gemacht hatte. Sein reich kommentiertes, erst-
58
mals im vierten Teil des 1637 erschienenen Discours de la mé-thode
vorgetragenes
Axiom 'Cogito,
ergo sum' ('Ich
denke, also bin ich'14) etabliert das Ego als Autorität.
Unabhängig von den Überzeugungen der Tradition soll es allein seinen
Sinnen und seinem Verstand vertrauen, deren Zuverlässigkeit einer einzigen
Instanz, nämlich wiederum der dieses Ichs, verpflichtet ist. Denkend und nur
denkend darf das Ich seiner gewiß sein - ich bin dieses raumzeitlich
unverfügbare Etwas, das denkt. Und wie seine theoretische Begründung,
so sollen auch seine Mitteilungen, sein Wissen von der Welt jederzeit
einleuchten. Die universale Methode des Cartesianismus för-dert die
Wahrheit jedes Gegenstandes, jedes kleinsten Ele-ments zutage, indem sie zu
genauer und umfassender Beob-achtung anhält, eine deutliche Darstellung
verlangt und schließlich das Urteil allein an den klaren Verstand und die
Gewissenhaftigkeit des Beobachters bindet. Descartes ist auf der Suche nach der
unumstößlichen Wahrheit, die es klar und deutlich zu erweisen und
auszusprechen gilt. Das 'Ich denke' beglaubigt die Gewißheit seines
Daseins und seiner Erkenntnis, mag selbst, wie Descartes dann 1641 in den Meditationes erwägt,
ein übermächtiger und verschlagener Dä-mon versuchen wollen,
seine Sinne zu täuschen und ihm fal-sche Begriffe einzugeben. Wie, so
fragt Descartes
in seiner Recherche,
vermag ich sicherzustellen, daß ich nicht bloß träume,
wenn ich etwas wahrzunehmen glaube, oder daß ich nicht irgendwelchen
Wahn- und Gaukelbildern aufsitze ? Ich kann, so lautet die Antwort, sicheren
Grund gewinnen, in-dem ich mir meiner bewußt werde. Von jenen
Beeinträchti-gungen und Zweifeln - die im übrigen ihren durchaus prag-matischen
Zweck haben - bleibt nämlich die eine Gewißheit
unangefochten, daß ich bin, sofern und solange ich denke, oder genauer:
daß ich bin, solange ich ausspreche, daß ich denke. Niemals,
sagt Descartes,
wird der
Dämon bewirken können, daß dieses denkende Ich, selbst wenn er
es hinter-gangen und irregeführt hätte, darum auch nicht sei. 'Nach-dem
ich alles genug und übergenug erwogen habe, muß ich
59
schließlich festhalten,
daß der Satz >Ich bin, Ich existiere<, notwendig wahr ist, sooft
ich ihn ausspreche oder im Geiste auffasse' ('toutes les fois que ie la prononce,
ou ie conçoy en mon esprit').15 Das Ich bewahrt sich, indem es etwas
und damit sich selbst ausspricht oder, wie wir nun mit Blick auf unsere
Ausgangsbeobachtungen sagen können, indem es mit seinem Werk (seinem Text)
eine Einheit bildet, deren Urheber und Garant niemand anderes ist als es
selbst. Erst diese Impli-kation erhellt die Brisanz des cartesianischen Cogito. Weit davon entfernt, lediglich
einen schlecht und recht überzeu-genden Erkenntniskalkül zu
verkörpern, formuliert es den Anspruch auf Selbsterhaltung dessen, der
seine metaphysi-schen Sanktionen verloren hat. Nachdem der kopernikanische
Umsturz die bis dahin gar nicht des Erweises bedürftige Überzeugung
angetastet hatte, daß der Mensch in der Ord-nung des Alls eine
privilegierte Stellung behaupte, die ihm zugedacht sei, bot das Cogito den probaten Ausweg. In die-sem
Augenblick ist seine Aufgabe eine doppelte. Es hat Sorge zu tragen, den
Geborgenheitsverlust auszugleichen, und es muß das dabei
angewandte Verfahren, seine - wie Descartes sagt - 'Methode', sichern und begründen. Die ihm
abver-langte Gewähr ist kompensatorisch, sein Triumph schicksal-haft.
Alles kommt nun darauf an, dem Prinzip eine bestimmte Grenze anzuweisen. An die
Unterstellung nämlich, daß da ein denkendes und lenkendes Ich sei,
das sich des methodi-schen Zweifels bedient, soll dieser Zweifel nicht
rühren. Das 'sum' wird
durch das 'Cogito'
als sein Grund
erwiesen und gebietet seiner Bewegung jähen Einhalt. Ist dies erst einmal
gewährleistet, kann es die Welt, die es zuvor zerlegt hat, mit Hilfe der
mathematischen Ideen aus diesem einen Punkt neu und rational wieder aufbauen.
Für Descartes ist das Sprechen in der ersten Person
der hör-bare Ausdruck dieses unverbrüchlichen Zusammenhangs. Mit ihm
betritt eine neue, durch das Scheidewasser des Zwei-fels geläuterte
Autorität den Schauplatz des Wissens. Auf den Niedergang des Dogmas, das
dem Redner den ihm gebühren-
60
den Platz anwies, folgt nun die
Herrschaft des sprechenden Ich. Wo das Subjekt sich dennoch zurücknimmt
und auf Selbstbekundungen verzichtet, da geschieht es freiwillig und aus
höherer Einsicht, ja gelegentlich in der Erwartung, daß seine
Autorität noch gesteigert werde. 'Der Rhapsode', no-tiert Goethe ganz in
diesem Sinn gegen Ende des Jahres 1797, 'sollte als ein höheres Wesen in
seinem Gedicht nicht selbst erscheinen, er läse hinter einem Vorhang am
allerbesten, so daß man von aller Persönlichkeit abstrahierte und
nur die Stimme der Musen im allgemeinen zu hören glaubte.'16
Das ist die hohe Schule der Selbstbekundung: die vervollkomm-nete
Sprachbeherrschung im verborgenen. Weder die Rheto-rik literarischer
Zurückhaltung noch die in den Wissenschaf-ten gepflegte Tugend formaler
Neutralität ändern das gering-ste an der von nun an gültigen
Regel, der zufolge, nach Kants berühmter Wendung, das 'Ich denke' alle
meine Vorstellun-gen begleiten können muß.
Dieser antideterministische Zug ist
selbst da noch bemerkbar, wo die Welt der Tatsachen und die Welt der
Empfindungen auseinanderzufallen drohen. 'Kein materielles Wesen ist aus sich
selbst heraus tätig', erklärt Rousseau 1765 in dem be-rühmten
Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars, das dem Emile beigegeben ist,
'ich aber bin es. Man mag mir diese Selbsttätigkeit, soviel man will,
bestreiten; ich fühle sie und dieses Gefühl ist stärker als alle
Gründe, die man gegen sie ins Feld führen kann.'17
Rousseau wagt den Schritt zur Proklamation der wahren Subjektivität, die
sich stark und of-fen kundtut, und liefert damit den ideellen Gegenentwurf zum 'philosophe masqué'. Der redliche Mann, wie Rous-seau
ihn vorstellt, ist ein Kämpfer, der am liebsten nackt strei-tet. Masken
und Rollen, Verschwiegenheit und Verstellung sind Werkzeuge der Macht, die
schöne Seele jedoch hat nichts zu verbergen. Damit ist die neue
Unmittelbarkeit sanktio-niert. Das Ich-Sagen ist nun nicht mehr nur Ausdruck,
es ist der unmittelbare Vollzug der Selbsterhaltung, der so wort-reich
geschilderten 'conservation
de soi-même' und des 'dé-
61
sir de se conserver'. Schreibend und reflektierend
wendet sich dieser 'erste moderne Mensch', den Nietzsche in ihm entdeckt18,
auf sich selbst zurück. Gegen den moralischen Zerfall und die Niedertracht
seiner Umgebung, ja gerade im Widerstand triumphiert das wahre Ich, seine
unzweifelhafte Integrität und Unantastbarkeit. Gewiß, der einzelne
liegt mit der Welt im Streit, aber es ist niemand anderes als er allein, der
der Entzweiung inne
wird und sich in
der aus dem Konflikt geborenen Rekonstruktion seiner selbst bewahren kann. In
seinem Vorwort zu Rousseaus autobiographischen Dialo-gen hat Foucault diesen Vorgang eindringlich
beschrieben.19 Auch Rousseau ist ein Archäologe, ein
Archäologe seiner selbst. Indem er aber die Vergangenheit zu seiner
Geschichte formt, beschwört er nicht nur Erinnerungsbruchstücke her-auf,
sondern fügt sie, unter feierlicher Betonung seiner Auf-richtigkeit, auch
zur Einheit zusammen. Der schreibende Rousseau setzt den lebenden ins Recht.
Durch den Schleier der Worte hindurch sucht sich der Verfasser der Bekenntnisse
als Chronist und Archivar seiner Geschichte zu bewahren. Entscheidend ist
jedoch nicht, daß er wahr spricht, er bean-sprucht vielmehr, wahrhaftig
zu sein. Diese Verschiebung, gegen die Voltaire ebenso vehement wie
vergebens protestiert hat, sichert ihm den Erfolg. Was Rousseau sagt und erzählt,
das zeigt die Färbung persönlicher Teilnahme und ist eben darum
verbürgt. Das Reich des Authentischen ist eine Sphäre
unumschränkter Kommensurabilität. Da sie vollkommen vom 'Ich spreche'
beherrscht wird, gibt es in ihr keine Tran-szendenz. Während darüber
Begriffe wie 'Weltoffenheit' je-den Sinn verlieren, erfährt der
Selbstbezug eine bis dahin unbekannte Steigerung. Ich existiere, versichert
Rousseau in betonter Anlehnung an die kanonische Formulierung des Co-gito, und ich verfüge über
Sinne, durch die ich Eindrücke empfange - 'die erste Wahrheit, auf die ich
stoße und die ich anzuerkennen habe'.20 Rousseau antwortet auf
die Krise der Institutionen mit einer praktischen Begründung des Ich, die
er der theoretischen des Cartesianismus zur Seite stellt: mit
62
dem auf der Lauterkeit des Herzens
beruhenden Gebot der Selbsterhaltung, dem er sich, indem er es wortreich zur
Spra-che bringt, in actu sogleich unterwirft. Auch wenn ihm die Risiken seines
Unterfangens nicht entgangen sind und er wie-der und wieder die Integrität
seines Charakters gegen die Un-zulänglichkeit der Wörter verteidigen
muß - 'lernt mich', so schreibt er am 4. Februar 1760 im Ton
äußerster Verzweif-lung, 'um Gottes willen künftig besser
deuten'21 -, so hält Rousseau doch daran fest, das Angebot des Cogito bestätigen zu wollen.
Wenn wir von den späten Reveries einmal abse-hen, in denen der Autobiograph im Blick auf
seine früheren Unternehmungen resigniert vom Faktum der Verlassenheit und
des Unverstandenseins ausgeht, dann läßt sich bei Rous-seau
beobachten, wie der Cartesianismus noch in modifizier-ter Gestalt und unter
veränderten Voraussetzungen den Au-tor mit dem für die neuzeitliche
Subjektivität bezeichnenden Selbstvertrauen ausstattet. Er erlaubt ihm,
'Ich' zu sagen, sooft und wo immer er spricht.
Und der Foucault von L'ordre du discours? Wir haben uns nur scheinbar von ihm
entfernt. Denn sein Vortrag setzt ge-nau an dieser Stelle an und rückt von
dem, was da begonnen und mit der Zeit verbindlich geworden war, ohne
Zögern ab. Er unterbricht den Monolog des cartesianischen Ego und bringt
gleich zu Beginn 'eine namenlose Stimme' ins Spiel, an die bei Descartes überhaupt noch nicht
gedacht ist. Des-cartes
räumt dem
Menschen als Beobachter der Natur einen privilegierten Platz ein, aber weder
thematisiert er 'den Men-schen' in seiner Doppelrolle als Beobachter und Beob-achteter,
noch hat er auch nur entfernt einen Begriff von je-nen Gegenden des
Nicht-Gedachten, jener von Foucault so
genannten 'zone
de non-pensé', deren Präsenz und Wirk-samkeit zu berücksichtigen erst für
das Selbstbewußtsein der Moderne unausweichlich sein wird. Die
Dämonie des 'Unbewußtseins' und des 'Bewußtlosen' ist eine
Entdekkung an der Epochenschwelle von 1800. Der Anwender der
63
Methode hingegen darf sich auch dem Irrtum
und dem Fehlur-teil grundsätzlich gewachsen fühlen. Wohl kennt und
erduldet Descartes
die Borniertheit
der mittelalterlichen Aristoteliker, denen er im Alter keck die Bemerkung
nachruft, er sei nun stolz darauf, sein Griechisch glücklich vergessen zu
haben. Aber er analysiert nicht ihre Irrtümer, um sie im einzelnen zu
ergründen und zu widerlegen. Der cartesianische Intellektua-lismus
vertraut vollkommen der Universalität der Vernunft und der Leucht- und
Durchsetzungskraft des natürlichen Lichts, das jene Finsternis schon werde
durchdringen können, um die Lehrgebäude der Scholastik, jene
künstlichen Gebilde aus Täuschung und Verwirrung, in Trümmer zu
legen. Diese Zuversicht, der Descartes mit unglaublicher Festigkeit anhängt, wird die Moderne
nicht mehr teilen. Ihr wird die Selbstverständlichkeit abhanden kommen,
mit der Descartes
vom 'Ich denke',
dem Subjekt der Aussage, auf das 'Ich bin', die Verfassung der Autor-Existenz,
hatte schließen können. Anders als Descartes ist die Moderne gehalten, nach den
Voraussetzungen des Denkens und Handelns zu fragen. Die Wahrheit gilt nicht
mehr absolut, denn sie hat ihre Bedin-gungen. In Les mots et les choses (1966) erinnert Foucault an die Erkenntnisse der
Politischen Ökonomie, durch die die Moderne erfuhr, wie die Arbeit den
Menschen entgleitet, noch bevor sie sie aufgenommen haben, und wie ihr Wirt-schaften
nicht nur Produkte für die Befriedigung ihrer Be-dürfnisse schafft,
sondern auch immer neue Bedürfnisse für den Absatz immer neuer
Produkte. Er verweist weiter auf die Perspektive der modernen Biologie, die das
Leben auf die Evolution der Biosphäre zurückführte.22
Ehemals, so zitiert er den Nietzsche der Morgenröte, 'suchte man
zum Gefühl der Herrlichkeit des Menschen zu kommen, indem man auf seine
göttliche Abkunft hinzeigte : dies ist jetzt ein verbotener Weg
geworden, denn an seiner Tür steht der Affe'.23 Zweifel-los
hätte Foucault
in diesem
Zusammenhang auch die Psychoanalyse zitieren können oder jene von Edward
Moore überlieferte Bemerkung Wittgensteins, der zufolge das Ich
64
kein Teil des Denkens sei und man
daher - so wie man auch sagt 'Es blitzt' - besser daran tue zu sagen 'Es
denkt'.24 In der Tat hat Foucault wiederholt die Feststellung aus dem Tractatus anklingen
lassen, das Subjekt gehöre nicht zur Welt, sondern sei 'eine Grenze der
Welt'.25
Alle diese Reminiszenzen
entkräften das cartesianische Selbstbewußtsein, dessen Substrat sich
als voraussetzungslos begriffen hatte. Nun, im Verlauf der Moderne, wird es in
seine Bestandteile zerlegt. Was sich dabei ereignet, ist nicht nur eine Kritik
an Descartes und am Cartesianismus, son-dern,
tiefergreifend, der Durchbruch durch den 'cordon sanitaire' des neuzeitlichen, von Foucault als 'klassisch' be-zeichneten Denkens.
Bezweifelt wird nämlich weniger die logische Stimmigkeit eines Arguments,
das in diesem Falle durch Formulierungshilfen, an denen es in der Tradition
auch nicht gefehlt hat, vielleicht noch zu retten gewesen wäre, als
vielmehr sein Haltepunkt, also ganz unmittelbar die gedank-liche Grundlegung des
Selbstbehauptungsversuchs, der im Cogito zum Ausdruck kommt. Es gibt, so lautet der alles er-schütternde
Einwand, diesen einen und entscheidenden Punkt gar nicht, aus dem heraus sich
das Gespinst einer Welt ziehen ließe, die auf einer allumfassenden und
verbindlichen Ordnung der Vernunft gründete und die zugleich von diesem
einen privilegierten Platz aus zu überschauen und zu beherr-schen
wäre. Die Welt der Moderne ist immer schon eine Viel-zahl von Welten, die
nicht aufeinander reduzierbar sind. Die Zumutung dieser Kritik besteht in der
Einsicht, daß die menschliche Subjektivität diese Welten keineswegs
begründe und gestalte, sondern nur eine ihrer mehr oder minder
zufälli-gen Hervorbringungen sei, die weder in ihrem Denken noch in ihrer
Existenz Originalität beanspruchen könne. Foucault folgt hier der Kritik Nietzsches.
Eines, so hatte Nietzsche erklärt, wolle er nicht nachlassen, immer wieder
zu unter-streichen, 'nämlich, daß ein Gedanke kommt, wenn >er<
will und nicht wenn >ich< will; so daß es eine Fälschung des
Tatbe-standes ist zu sagen: das Subjekt >ich< ist die Bedingung des
65
Prädikats >denke<. Es denkt:
aber daß dies >es< gerade jenes berühmte >Ich< sei, ist,
milde geredet, nur eine Annahme, eine Behauptung, vor allem keine
>unmittelbare Gewißheit<. Zu-letzt ist schon mit diesem >es
denkt< zuviel getan : schon dies >es< enthält eine Auslegung des
Vorgangs und gehört nicht zum Vorgang selbst. Man schließt hier nach
der grammati-schen Gewohnheit >Denken ist eine Tätigkeit, zu jeder
Tätig-keit gehört einer, der tätig ist, folglich -<'.26
Mit Nietzsche entziffert die Moderne das emphatische Ego des Descartes als Effekt, und zwar als
Effekt jenes nicht Mitbedachten, jenes 'non-pensé', das, statt von ihm kontrolliert zu
werden, sei-nerseits jenen vakanten Platz erst bereitstellte, auf dem das
Subjekt sich dann niederließ, um sich für eine Weile an seinen
Phantasien zu erbauen.
'Qu'est-ce qu'un auteur?' - 'Was ist ein Autor?' - unter diesem Titel hat Foucault 1969 in einem Referat vor der So-ciété
Française de Philosophie das Problem der Urheber-schaft aufgenommen.27 Diese
gerade anderthalb Jahre vor L'ordre du discours vorgetragenen und hier wieder aufge-nommenen
Überlegungen verzichten auf historisch-soziolo-gische Analysen wie etwa
die Erforschung der publizistischen Rahmenbedingungen, unter denen die
literarische Idee des Autors einst aufkam. Die Literatur der Moderne, so lautet
die Ausgangsbeobachtung, hat sich der Frage nach dem Autor entledigt. Foucault erinnert zum einen an die spezifisch
mo-derne Gleichgültigkeit der Literatur gegenüber dem persön-lichen
Ausdrucksverlangen, zum anderen an die mythentiefe 'Verwandtschaft des
Schreibens mit dem Tod'28, die zuletzt die Opferung des Autors
verlangte. In den Objektivationen der Form überdauerte die Idee der
Einmaligkeit, aber nur, um sich an sie zu verlieren. Die moderne Literatur - Foucault nennt Flaubert, Proust und Kafka - hat
jenen Vorgang aufge-griffen, angenommen und weitergeführt, der Voltaire
einst vorgeschwebt haben mochte, als er für den Bereich der Wis-senschaft
forderte, die Individualität des Produzenten habe der Unsterblichkeit des
Textes zu weichen. Sie entwickelte
66
eine Form der Darstellung, die die
Emphase der ersten Person verbot. Charles Swann und Josef K. erhielten das Wort
und ließen die Person des Schreibenden, seine empirische Indivi-dualität
und seine auktoriale Präsenz vergessen. Von nun an galt: es
erzählt. Werke, so bekennt sich Flaubert bereits An-fang November 1859
zur Idee der Ungerührtheit, der 'impas-sibilité', 'Werke, das ist alles. Was kommt es
auf das Wir und besonders auf das Ich an!'29 Nur wenig
später spricht der Romancier gegenüber George Sand von 'absoluter
Unpartei-lichkeit' und kündet wahrhaftig an, sein Schreiben werde eines
Tages die 'Genauigkeit der Wissenschaft'30 erreichen. Foucault aber bleibt bei solchen
Verzichterklärungen nicht stehen. Muß nicht, so fragt er weiter, mit
der Vorherrschaft des Autors auch der Begriff des Werkes fallen, da er doch nur
mit Blick auf denjenigen zu halten ist, der es zu verantworten hat ? Ist nicht
weiterhin auch ein Begriff des Schreibens ver-fänglich, der das
Geschriebene behandelt wie ein Sakrament? Und überleben auf diese Weise
nicht unweigerlich auch die alten Vorstellungen von der Vorrangstellung des
Autors, von der Souveränität seiner Sprachbeherrschung und der
Privile-giertheit seines Tuns ? Diese Fragen zu bejahen heißt, das Ver-hältnis
von Text und Produzent umzukehren. Der Autor wird zur variablen Funktion
'seiner' Sprache und ihrer Regeln. Aber diese Umkehrung ist nicht bloß
ein einfacher Austausch von hüben und drüben, Subjekt und Objekt, son-dern
lenkt den Blick auf das Ereignis der Herkunft. Foucaults Perspektivenwechsel
ermittelt die sprachlichen Regularien, jene komplizierten Vorgänge und
Prozeduren, in denen Stück für Stück die Ikone des Autors
zusammengesetzt wird. Unter den Augen der Kritik zerfällt sie in eine
Vielzahl möglicher Funktionen, die jenen durch sein Umfeld konsti-tuierten
Souverän überhaupt erst ermöglicht haben. Damit löst sich
die Frage nach der Urheberschaft des Autors aus den engen Grenzen eines
fachwissenschaftlichen Metho-denstreits und wird prinzipiell. Das
cartesianische Ego, das soeben noch in der Literatur ein sicheres Asyl gefunden
zu
67
haben glaubte, gewinnt Pluralität
und verwandelt sich in einen Chor flüsternder Stimmen.
Sprachförmiges und Lebendiges
aber bleiben getrennt. Der skeptische und mit wie gegen Rousseau vorgetragene
Ge-danke der Romantik, wonach kein direkter Weg von der Sprache zum Subjekt
führe, wird nun aufgenommen und wei-tergetrieben zu dem Schluß,
daß, was immer das 'Ich spre-che' auch geltend machen möge, es
jedenfalls nicht auf das Individuum in seiner Unmittelbarkeit verweise. Jenes
sich in seinem Text aussprechende Ich, sagt Foucault, ist eine Illu-sion. Es ist eine Maske,
hinter der wir, wenn wir sie abneh-men, immer nur weitere Masken finden werden,
nie aber ein Urbild, ein Wesen, ein Original, eine Idee. Die mit dem 'Ich
spreche' überschriebene Darstellung nutzt einen in der Grammatik
bereitgehaltenen Kunstgriff, dessen sich jeder-mann bedienen kann, ohne doch
darum in jenem emphati-schen Verständnis als Autor, und das heißt
als Schöpfer gelten zu dürfen. Das Ich ist nicht Herr in seinem
eigenen Haus -nämlich in seiner Sprache. Hatte nicht sogar Rousseau das
Leben preisgeben müssen, als er die warmherzigen Gefühle, von denen
er zu erzählen weiß, in der spröden Form der Schrift erkalten
ließ? War nicht aus der Befugnis, jederzeit 'Ich' zu sagen, in Wahrheit
längst schon eine der eigenen Verantwortlichkeit entglittene Verpflichtung
geworden ? Ich lese in meinem Herzen, hatte Rousseau behauptet, und ich kenne
die Menschen.31 Das menschliche Herz, antwortet ihm jetzt Foucault, ist eine Abstraktion. Seine
trotzige Selbstbe-hauptung vollzieht sich, wider allen Anschein, auf einem de-terminierten
und zugleich leeren Platz.
Nehmen wir jedoch zur Kenntnis,
daß das Verschwinden der Autor-Präsenz und der dem Ich zur
Besprechung und Gestal-tung überantworteten Welten durchaus nicht als
Triumph oder mit Genugtuung über den schlagwortfertigen 'Tod des Subjekts'
inszeniert wird. Foucault ist
kein Freund von Sottisen. Zur Vermeidung einer zuletzt verfänglich
gewordenen Fixierung stellt er das Problem einstweilen zurück. Wie er im
68
Schlußstück der Archäologie
des Wissens erläutert, hat er in diesem Augenblick lediglich 'die
Positionen und Funktionen definieren wollen, die das Subjekt in der
Verschiedenheit der Diskurse einnehmen konnte'32. Die Frage nach dem
Autor-nach jener Produktionsstätte also, in der Elemente der Spra-che
geformt und gefügt werden, nach jenem Platz, der dem Sprecher zugewiesen
wird - ist damit neu gestellt. Dabei geht es jedoch nicht mehr um den Ausdruck
einer hintergründig wirksamen Autor-Instanz, sondern um die Produktion.
Wie bei jeder Beschreibung hat auch hier das Augenmerk der Metapher zu gelten.
Das Autor-Subjekt 'erlischt' nicht, so daß es seine Existenz
einbüßt, sondern wir verlieren es aus den Augen, indem es sich
'zerstreut'. Es entschwindet dem analytischen Blick des Theoretikers, der ihm
in seiner Welt keinen gebührenden Platz anzubieten hat. 'Im Augenblick und
ohne daß ich ein Ende absehen könnte, meidet mein Dis-kurs - weit
davon entfernt, den Ort zu bestimmen, von dem aus er spricht - den Boden, auf
den er sich stützen könnte.'33 Sätze von so
verführerischer Eingängigkeit überblenden allzu rasch, was sich
in ihnen tatsächlich ereignet. Zwischen diesen überreichlich
glossierten Zeilen nimmt der Genealoge unver-merkt Abschied von der
Achtlosigkeit des Avantgardismus, der es sich leisten kann, die Wahrheit der
Pikanterie zu op-fern. Während die Avantgarde ihre Glaubensartikel selbst-verständlich
spontan und despotisch vorträgt, darf der Ge-nealoge mit dem Mythos des
Unerhörten allenfalls spielen. Der absolute Neubeginn, der das Pathos der
Avantgarden be-stimmt, ist für ihn nur Mittel zum Zweck. Da die Mannigfal-tigkeit
des Geschehenen seine Perspektive vorgibt, zugleich aber auch gefährdet,
verliert er sie ebensowenig aus den Augen wie die Abweichungen und
Widersprüche seiner eige-nen Intervention. Er ist bereit, die Situation
offen zu halten, und weiß doch, daß damit schon alles entschieden
ist. Das Ergebnis ist eine Art positiver Zweideutigkeit. Als ob er es vermeiden
wollte, den Grund zu bezeichnen, der ihm viel-leicht Halt bieten könnte,
sucht er die Beständigkeit der Be-
69
wegung. Foucault vervielfacht den
archimedischen Punkt, wie er mit dem Cogito gefunden war, und verabschiedet, einzig und allein mit
dieser Streuung, eine Tradition. Die kritische Besinnung auf die Herkunft
führt nicht zu neuen Fundamenten, sondern in die Permanenz der Revision,
des Positionenwechsels und des Neubeginns. Wenn es ein durch-gängiges
Motiv im Denken Foucaults gibt, so ist es diese ent-schiedene Antidogmatik und,
damit verbunden, die Bereit-schaft, das Kaleidoskop weiterzudrehen, bevor sein
Bild erstarrt. Der heuristische Gewinn liegt auf der Hand. Sein
'vagabundierendes Denken' - 'la pensée sans aveu', wie Foucault selbst
es nennt - bedeutet den Rückzug aus den Ver-strickungen der Identifikation
und, darüber hinaus, die Auf-kündigung einer Deszendenz. 'Der Mensch,
von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man uns einlädt, ist be-reits
in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er', wird Foucault Mitte der siebziger Jahre in Surveiller et punir erklären.34
Ist erst einmal Einvernehmen darüber her-gestellt, daß den Menschen
mit ihrer Ernennung zum Subjekt der Geschichte oder zu Herren ihrer Rede kein
Gefallen getan ist, dann wird das Dementi der alten Versprechungen mit einemmal
als eine Art Schadensbegrenzung faßbar. Und da die Menschen sich nur im
Bild dessen begreifen, was sie nicht sind, bleibt der Ermittlung von
Positivitäten vorerst gar nichts anderes übrig, als zu diesem Punkt
zu schweigen. Dieser Abschied ist frei von aller Bitterkeit, ja, er ist heiter
und gelassen. 'Anstatt der Urheber des Diskurses zu sein', so entwindet sich Foucault behutsam und beharrlich dem Zwang zum
Bekenntnis, 'wäre ich im Zufall seines Ablaufs nur eine winzige Lücke
und vielleicht sein Ende.'35 Alles, was dieser einleitenden
Bemerkung folgt, steht im Zeichen ihres Vorbehalts. Gewiß, dort steht Foucault, und wir hören ihm zu.
Aber das ist nicht alles. Seine Rede ist vielstimmig. Wir vernehmen die Worte
des Vortragenden und die Wün-sche dessen, der lieber nicht begonnen
hätte. Vergessen wir aber auch die 'Stimme ohne Namen' nicht, die auf
rätselhafte
70
Weise ebenfalls das Wort ergreift. Aus
ihr spricht die institu-tionelle Einbettung dieser besonderen Redesituation,
die Reichhaltigkeit des Austauschs, den dieser Text mit anderen Texten
unterhält, das Spiel, das er mit sich und mit den ande-ren treibt,
schließlich auch die Vorstellung, die wir nun von all dem gewinnen. Seien
wir also aufmerksam. Nicht nur, daß die Larve den Sprecher verbirgt, sie
verändert auch unsere, der Zuhörer Wahrnehmung. Das kunstvolle und
von Gilles Deleuze in seiner grandiosen Apologie mit Recht zu den be-wegendsten
Aussagen Foucaults gezählte Maskenspiel36, mit dem Die
Ordnung der Dinge beginnt, legt in konzentrierter Form die Unauffindbarkeit
der auktorialen Präsenz dar, und es zieht aus dieser Einsicht sogleich die
Konsequenz. Es han-delt sich, mit einem Wort, um die Anwendung einer Theorie
auf sich selbst.
Wir werden zu Beobachtern und
womöglich zu Beteiligten eines Experiments. Fallen wir deshalb Foucault nicht in den Rücken, indem wir
allzu viel Aufhebens von seiner privaten Geschichte machen.
Michel Foucault37 stammt aus der Provinz. Am 15.
Oktober 1926 wird er in Poitiers geboren,
dort geht er zur Schule. 1945 wechselt er auf das Lycée Henri IV in Paris, wo mit Jean Hyp-polite der neben Jean Wahl und
Alexandre Kojève
wohl profi-lierteste
französische Hegel-Interpret der Zeit zu seinen Leh-rern zählt.
Hyppolite, dessen sich Foucault im
Schlußstück des Discours dankbar erinnert, war als Übersetzer der Phänomenologie
des Geistes hervorgetreten, und gerade jetzt, also Ende der vierziger
Jahre, veröffentlichte er weitere große Aufsätze zu Hegel. Foucault besucht von 1946 an die École Normale Supérieure, um sich schließlich an
der Sorbonne für die Fächer Philosophie und Psychologie
einzuschreiben. Nachdem an der École Normale Louis Althusser zu seinen
71
Lehrern gehört hatte, besucht er
nun Vorlesungen bei Mau-rice Merleau-Ponty. Später wird Foucault außerdem
Georges Dumézil
und Georges
Canguilhem, den Betreuer seiner Ha-bilitationsschrift, zu seinen akademischen
Lehrern zählen. 1952 geht er zurück in die Provinz. An der Faculté des Lettres in Lilie übernimmt er
eine Assistenz in Psychologie und macht eine folgenreiche Entdeckung, die sein
Denken in den kommenden Jahren herausfordern wird: das Werk Nietz-sches. Foucault war Stilist und Ironiker genug, um die
durch diese Begegnung ausgelöste Konversion im Rückblick zum Moment
der Resipiszenz zu gestalten: 'Was den tatsäch-lichen Einfluß
Nietzsches auf mich betrifft', antwortet er 1967 auf die Frage Paolo Carusos
nach seinem Bildungsgang, 'so fällt es mir schwer, ihn zu
präzisieren, eben weil ich mir darüber im klaren bin, daß er
sehr tiefgehend war. Ich kann nur sagen, daß ich ideologisch
>Historizist< und Hegelianer gewesen bin, solange ich Nietzsche nicht
gelesen hatte.'38 Das ehemalige Mitglied der Kommunistischen Partei
wech-selt in die Dissidenz.
In die frühen fünfziger
Jahre fällt Foucaults erste selbständige Veröffentlichung, Maladie mentale et personnalité (die deut-sche
Übersetzung - Psychologie und Geisteskrankheit, 1968 -folgt
der zweiten Auflage von 1962). Foucault wechselt nun mehrfach seinen Aufenthaltsort.
Zunächst arbeitet er drei Jahre als Lektor in Uppsala, 1958 steht er dem 'Centre fran-çais' an der Universität
Warschau vor, kurz darauf dem 'In-stitut français' in Hamburg. Folie et déraison (dtsch. Wahn-sinn und Gesellschaft, 1969) erscheint erstmals 1961
- im Verlag Plon, nachdem Gallimard das
Manuskript abgelehnt hatte -, und schon 1963 folgt Naissance de la clinique (Die Geburt der Klinik, 1973; die deutsche Fassung
folgt wie-derum einer zweiten, revidierten Auflage von 1972). Fou-cault, der mittlerweile zum
Redaktionsbeirat der von Georges Bataille gegründeten Zeitschrift Critique gehört, kehrt nach Frankreich
zurück und unterrichtet in Clermont-Ferrand. Mitte der sechziger Jahre gelingt ihm
dann das
72
Buch, das ihn einer breiten
Leserschaft bekannt machen wird: Les mots et les choses (1966; dtsch. Die Ordnung der
Dinge, 1971). Nach einer weiteren, knapp zweijährigen Do-zentur in der
Provinz wechselt er ins Zentrum. Von 1968 an unterstützt Foucault den Aufbau des 'Centre universitaire
expérimental' in Vincennes, wo er den Bereich Philosophie betreut. Als 1969 L'archéologie du savoir
(dtsch. Die
Archäo-logie des Wissens, 1969) herauskommt, wird der
Dreiundvierzigjährige in das angesehene 'Collège de France' gewählt und
hält dort im Dezember 1970 seine Inauguralvorlesung: L'ordre du discours.
Es ist eine politisch und theoretisch
bewegte Zeit - auch für Michel Foucault. Ende der sechziger Jahre publiziert er au-ßerordentlich
lebhaft und vielfältig. Neben der hochabstrak-ten Archéologie steht ein umfangreicher Essay
über die Male-rei von Magritte (Ceci n'est pas une pipe, 1968; erweitert 1973 ; dtsch. Dies
ist keine Pfeife, 1974) ; auf eine Abhandlung über die Grammatik von
Port Royal (1967) folgt sogleich die
Herausgabe der Schriften von Bataille (1970); eine Einleitung zu Nietzsches Fröhlicher
Wissenschaft (1967) steht neben einem Aufsatz zur Epistemologie (1968); dem
Nachruf auf Hyppolite, der 1968 gestorben war, folgt 1970 eine Untersu-chung
über die Bedeutung Cuviers für die Geschichte der Biologie. Nimmt man
nun noch hinzu, daß diese Liste längst nicht vollständig ist,
dann zeigt sich die besondere Qualität von L'ordre du discours. Foucaults Leçon inaugurale fällt in eine Phase der
Orientierung und des Umbruchs, der kriti-schen Sichtung und des Neubeginns. Sie
präsentiert ein Den-ken in Bewegung, ein Denken, das bereit ist, sich
neuen Ein-drücken und Aspekten zu öffnen, das Begriffe und Modelle
entwickelt, erprobt und verfeinert.
Im Text des Discours kommt diese Flexibilität auf
verschie-dene Weise zum Ausdruck. Bereits der Titel ist von bezeich-nender
Mehrdeutigkeit. Das französische Wort 'ordre' bezeichnet ja nicht nur ein bestimmtes
Gefüge von Verhält-nissen, also die >Ordnung<, sondern auch den
>Befehl< und
73
den >Auftrag<. Damit deuten sich
unterschiedliche, auch kon-kurrierende Verständnismöglichkeiten an,
deren Spektrum die deutsche Übersetzung unweigerlich reduziert. Der Origi-naltitel
läßt je nach Lesart entweder beschreibende oder kriti-sche
Gesichtspunkte hervortreten, ja, er scheint den Zweck dieser Vorlesung zu
persiflieren, die er überschreibt. Es sind nicht zuletzt diese kalkulierten
Unbestimmtheiten, die dafür sorgen, daß vorn Standort dieses Textes
aus kein Blick auf das Ganze des Œuvres (wenn es denn ein Ganzes ist) gewonnen werden kann.
Foucaults Vorlesung bietet kein Resümee, sie ist auch kein
Zwischenschritt, sondern ein selbständiger Text. Gewiß, anders als
die Zuhörer an jenem Dezembertag des Jahres 1970 kann der heutige Leser
überschauen, was danach noch kommen sollte - Surveiller et punir vor allem (1975; dtsch. Überwachen
und Strafen, 1976) und, nicht zu verges-sen, die groß angelegte und
heute in drei Bänden vorliegende Histoire de la sexualité (1976 ff. ; dtsch. Sexualität
und Wahr-heit, 1977 ff.), die Foucault nicht mehr fertigstellen konnte. Doch sollte uns dieses
Wissen nicht daran hindern, Die Ord-nung des Diskurses in ihrer
Besonderheit wahrzunehmen. Wir werden in diesem Text nicht das extrem
verkürzte Pan-orama eines Werkganzen finden, nicht die Ursprungsgestalt
des Kommenden, sondern allenfalls eine Miniatur, die Mo-mentaufnahme eines
>work in progress<, die Bewegung des Denkens im Stillstand. Verzichten
wir deshalb auf die obli-gate 'Würdigung'. Nehmen wir statt dessen jenen
Faden wieder auf, den wir zu Anfang durch dieses lose gesponnene Gewebe zu
legen versuchten, und verfolgen wir ihn noch ein Stück weit fort.
Dem Begriff, den Foucaults
Inauguralvorlesung in den Vor-dergrund stellt, den sie bald abwägt, bald
aus- und umbaut, sind wir bislang ausgewichen: dem Begriff des 'Diskurses'.
74
'Ich setze voraus, daß in jeder
Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert,
organisiert und kanalisiert wird - und zwar durch gewisse Prozeduren, deren
Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskur-ses zu
bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche
Materialität zu umge-hen.'39 Foucault führt diesen Gedanken als
Arbeitshypo-these ein. Fragen wir nun also zurück. Was ist ein Diskurs ?
Möglicherweise verdanken die Schriften Foucaults ihre be-trächtliche
Resonanz auch der Bereitschaft, sich über akade-mische Gepflogenheiten
hinwegzusetzen, und zwar über institutionelle Vorgaben ebenso wie
über jenes Ensemble for-maler Voraussetzungen, die erfüllt sein
müssen, damit eine Aussage als 'wahr' gelten kann. Foucaults historische
Ana-lysen reflektieren die Umstände und Regeln des 'dire-vrai' nicht weniger eindrucksvoll als seine
aufwendige, immer auch in eigener Sache sprechende Rhetorik. Eine dieser for-malen
Bedingungen besteht im Anknüpfen an Vorhandenes und Anerkanntes, in der
Darlegung von Denkeinsätzen mit Blick auf den Stand der Diskussion. Die
Wirkung einer sol-chen Maßnahme ist klar. Die Theorie präsentiert
sich in den Zusammenhängen einer Geschichte, in die sie gehört und an
der sie nun partizipiert. Sie gibt sich selbst und ihren Kom-mentar gleich
dazu. Indem sie sich als eine von zahllosen Re-flexionen im Spiegelkabinett des
Geistes bekennt, hat sie teil an seiner Autorität. Sie spricht mit
geliehener Stimme. Dage-gen ist Foucaults Impetus von erfrischender
Unbekümmert-heit oder, je nachdem, von skandalöser Unverfrorenheit.
Er widersetzt sich jener Aufforderung, die schon Friedrich Schlegel
verspottete, nämlich vor den Augen des beifällig nikkenden Publikums
die Schultern eines Riesen zu besteigen, der wiederum auf den Schultern eines
Untermannes steht, dieser auf den Schultern eines weiteren Untermannes und so
ins Unendliche fort bis zur ursprünglichen Schulter.40 Statt
Idee und Idee, Theorie und Theorie zu verweben und an die Wörter- und
Gedankenwelt von 'Vorläufern' anzuknüpfen,
75
sucht Foucault seinen Fixpunkt außerhalb der
Denkge-schichte. Dieser Positionswechsel stellt die Theorie entschie-den um. Er
bedeutet den Verzicht auf die rituelle Beschwö-rung des Ursprungs als der
Heimstatt unverhüllter Wahrheit, jener einst von Rousseau beschworenen 'simplicité des pre-miers
temps'. Statt
dessen postuliert Foucault 'Ereignisse'
und 'Erfahrungen' in der Gegenwart, über die das um Histo-risierung
besorgte Ritual der Theoriepräsentation im allge-meinen rasch
hinweggleitet.
Ein solches Insistieren kann nicht
anders als präpotent auftre-ten. 'Dieses Bedürfnis nach Theorie
gehört noch zu dem Sy-stem, von dem man genug hat', erklärt Foucault 1971 einem Gesprächspartner. 'Ich
würde der Utopie die Erfahrung, das Experiment entgegensetzen. Die
künftige Gesellschaft zeich-net sich vielleicht in Erfahrungen ab :
Drogen, Sex, gemein-schaftliches Leben, ein anderes Bewußtsein, ein
anderer Typ von Individualität.'41 Wenn wir die Phantasien
dieser anar-chischen Vision beiseite lassen, die zu einem anderen Zeit-punkt
vielleicht anders ausgefallen wären (und ohnehin dem rhetorischen Gehaben
der 'Tuchfühlung' zuzuschreiben sind, auf das eine solche Kritik
schwerlich verzichten kann), dann wird sogleich die Sorge erkennbar, die dieses
Denken umtreibt. Alles ist darauf angelegt, die erdrückende Bürg-schaft
des Ursprungs fernzuhalten. Es ist bereits gesagt wor-den, daß diese
Unbotmäßigkeit auch den Zuhörern neue Umgangsformen auferlegt.
Buchhalterische Grundsatzprü-fungen etwa, die ihr Theorie-Ideal im stillen
pflegen, gilt es zurückzustellen. Wer hier nach Spuren strenger Systematik
sucht, nach der vorausschauend ordnenden Hand im Rücken der Texte, der
kann nur fehlgehen. Die Erwartung, daß, wie Foucault in seinem Nietzsche-Essay
erklärt, der historische Sinn die 'überhistorische Historié'42 hinter sich lassen möge,
schließt die Möglichkeit eines Denkens mit ein, für das Erfah-rungen
möglich bleiben. Daran zu erinnern ist das Recht der Rhetorik. Foucault verzichtet darauf, das Dort und Damals
gegen das Hier und Jetzt auszuspielen, den Zusammenhang
76
gegen das Ereignis, die Entwicklung
gegen den Bruch, das Wesen gegen die Erscheinung. Sein Gestus ist wahrnehmend
und beschreibend. Diese immer wieder gesuchte Gegen-standsnähe verhindert
wirkungsvoll die Verselbständigung der Analyse zu einer allgemeinen
Theorie. Gewiß, auch der Genealoge braucht die Historié, aber er braucht sie, um 'die
Chimäre des Ursprungs'43 und alles, was damit an still-schweigenden
Konsistenz- und Souveränitätsbehauptungen verbunden sein mag, zu
vertreiben. Der Blick dieses histori-schen Sinns wirkt trennend, zergliedernd,
lösend. Er kennt keine Konstanten.
Foucault wäre nicht Foucault, würde er die Frage nach dem
Diskurs-Begriff schlicht und erschöpfend mit einer bündigen
Definition beantworten. Gewisse Formulierungen bieten Annäherungen, doch
sie legen die Sache nicht starr und unbe-weglich fest. So gibt er in L'ordre du discours eine ganze Reihe von
Hinweisen, aber sie sind in erster Linie verneinender Na-tur. Demnach bildet
der Diskurs keine rhetorische oder for-male Einheit, deren historisches
Erscheinen man erklären könnte, und er ist auch keine zeitlos-ideale
Form, die außer-dem noch eine Geschichte hätte. Was aber ist er dann
? Der Diskurs-Begriff fragt nach eben jener 'zone du non-pensé', die die Bedingungen und die Umrisse
des Denkens festlegt. Welches, so lautet die Frage, sind die Bedingungen, die
endgültig darüber entscheiden, was - gemessen am unbe-grenzten
Angebot der Sprache - zu einer Zeit und an be-stimmter Stelle tatsächlich
gesagt wird? Seine Unbestimmt-heit, die Schwäche und Stärke zugleich
ist, gewinnt der Dis-kursbegriff dadurch, daß er nicht nur die
Organisation des Wissens beschreibt, also eine Form, sondern auch seine Pro-duktion,
also eine Praxis, und daß er weiterhin nicht nur die institutionellen
Rahmenbedingungen des Wissens anspricht, sondern auch die Politik. Dieser
Reichtum der Gesichts-punkte und Nebenbedeutungen hat ein farbenfrohes und mit
einer gewissen Streubreite ausgestattetes Vokabular angeregt,
77
das zudem, wie es kaum anders sein
konnte, mit jedem Ein-satz weitere Unterscheidungen, Nuancen und Schattierungen
hervorbrachte, mitunter auch selbstkritische Revisionen. Foucault verglich die Begrifflichkeit seiner
Analytik mit einer Werkzeugkiste.44 Demnach bestimmt einzig und
allein das Werkstück über die Tauglichkeit und die Verwendung der In-strumente.
Foucault ist Skeptiker gerade in der
Wahl seiner Mittel.
Wer bei einer solchen Disposition
weiterkommen will, dem empfiehlt sich der Weg der Negation, dem die
Diskursanalyse ihrerseits auf höchste Höhen folgte, als sie auf
Anfrage wissen ließ, der Diskurs sei 'nicht nichts oder fast nichts'45.
Foucaults Erläuterungen konturieren den Diskurs-Begriff im Zuge jener
perspektivischen Neueinstellung, die den unwi-derruflichen Abschied von der
Ideengeschichte markiert. Die Auswirkungen dieses Eingriffs in die theoretische
Ordnung sind nicht zu unterschätzen. Jegliche Spekulation auf Be-stände,
auf die sogenannten unaufgebbaren Positionen, wird von der Diskursanalyse
beiseite geschoben zugunsten einer interesselosen Beschreibung der Schichtungen
und Ablage-rungen des Wissens, seiner internen Verhältnisse und seiner
Form. Die stillschweigenden Voraussetzungen der Ideenge-schichte veranlassen
den Genealogen, ihre Motive preiszuge-ben und sich zu beschränken. Als
typisch für die 'histoire des idées' bezeichnet Foucault die Aufmerksamkeit für Entste-hensprozesse,
Entwicklungen, Einflüsse und Fortsetzungen, also die Themengebiete
'Genese', 'Kontinuität' und 'Totalisierung'. Die Diskursanalyse setzt sich
davon in viererlei Hinsicht ab 46 : Statt nach der Schöpfung (création) zu fragen, konstruiert sie die
Diskurse in ihrer irreduziblen Besonder-heit als Ereignis (événement); statt sodann nach der Einheit (unité) eines Werks oder einer Epoche zu
suchen, beschreibt sie eine Serie (série) blanker Positivitäten; statt weiterhin nach der Spur
des Souveräns, nach der Ursprünglichkeit (origina-lité) zu forschen, erkundet sie die
Regelhaftigkeit (régularité),
die den Diskurs
leitet; und statt schließlich ihre Untersu-
78
chungsgegenstände als Dokumente
mit bestimmter Bedeu-tung (signification) zu begreifen, rekonstruiert sie ihre Mög-lichkeitsbedingung (condition de
possibilité). Es geht also nicht so sehr um die Aufzählung und Kombination voraus-setzungsloser
Ideen und Sinnbezüge als um die Ermittlung jenes Vorgangs, in dem eine
gegebene Vorstellung Gestalt gewinnt, damit eine Größe wie
>Sinn< überhaupt Entfaltungs-raum findet. Das herkömmliche
Verfahren der Ideenge-schichte, sagt Foucault, die das Gewimmel der Ereignisse beherzt periodisiert, ist
nicht ganz falsch, aber es ist unzu-reichend, wenn es den Eindruck vermittelt,
'als hätte es in dieser Welt der gesagten und gewollten Dinge nicht
Invasio-nen, Kämpfe, Entführungen, Überlistungen gegeben'47.
Ge-nau sie bilden denn auch die bevorzugten Themen und Per-spektiven der 'histoire des systèmes
de pensée' - jene Regeln des Zwangs und der Disziplinierung, der Grenzziehung und des
Verbots, der Verknappung und der Zuteilung, die einen Aussagebereich ordnen und
durchdringen. Es handelt sich, kurz gesagt, um das Problem der
'Einschränkung des Dis-kurses'48.
Nun ist diese Formulierung - im
Original 'délimitation
du discours' -
offensichtlich gleichfalls doppeldeutig. Die Ord-nung des Diskurses spricht
von Kontrollen und Prozeduren, die dem Diskurs auferlegt werden (und die das
Bild der re-pressiven Gesellschaft heraufbeschwören), sie spricht aber
auch von Verfahrensweisen, die der Produktion der Diskurse
unveräußerlich, wenn nicht dienlich sind (und die eine eher
systemtheoretische Betrachtungsweise nahelegen). Entspre-chend ambivalent fällt das Urteil
über diese Vorgänge aus. Sie behindern und gängeln nicht nur,
sie helfen und fördern auch. Der Diskurs ist ihnen ausgeliefert, aber, so
setzt die Analyse gleich hinzu, in dieser seiner Spezifität existiert er
auch gar nicht ohne sie. An einer Stelle faßt Foucault diese Zweideutig-keit thesenhaft
zusammen, wenn er erklärt, man könne die Prinzipien der
Einschränkung 'in ihrer positiven und frucht-baren Rolle nur verstehen,
wenn man ihre restriktive und
79
zwingende Funktion betrachtet'49.
Der Diskursbegriff um-faßt demnach sowohl die Regeln des Formierens (den
Gegen-stand des genealogischen Aspekts) als auch die von ihnen ge-stiftete
Ordnung, also die zugerichtete Welt (den Gegenstand der Kritik). Diese beiden
werden überhaupt nur aus heuristi-schen Gründen getrennt. Was wir von
der Wirklichkeit wis-sen und über sie sagen, das prägt sich aus in
Diskursen. Dem konventionellen Darstellungsgestus der Ideengeschichte, die die
Dinge gelassenen Blicks an sich vorüberziehen sieht, ent-geht diese schon
in der Titelgebung der Vorlesung anklin-gende Doppeldeutigkeit. Sie ignoriert
die Fragwürdigkeit ihres Standpunktes, der von jenen positiven Effekten
der Ein-schränkung, die den Schauplatz beherrschen, nicht weniger
mitbetroffen ist als die Diskursanalyse selbst. Der Betrachter gehört
immer schon dazu. Daß der Diskurs, wie Foucault sagt, die Gewalt sei, die wir den
Dingen antun, ist nicht bloß >façon de parler<. Aber, und auch das demonstriert
der Dis-cours,
man muß
diesen Effekten nicht erliegen. Der philo-sophe masqué< verrät uns, wie man mit ihnen
umgehen kann. Seine List ist eine List des 'wilden Außen', der 'extériorité sauvage'50, und des
Spiels, nicht der Vernunft. Diese Diffe-renz ist entscheidend. Denn zwischen
beiden verläuft die imaginäre Grenze zwischen Hegel und Nietzsche,
zwischen Spekulation und Genealogie.
Bleiben wir jedoch noch einen
Augenblick bei der zentralen Frage nach der Beschaffenheit des Diskurses. Im
weiteren Verlauf seiner Annäherung behält Foucault das Verfahren der indirekten
Darstellung bei, das heißt, wir erfahren, was der Diskurs nicht ist
oder wo er nicht vorkommt. So bei Descar-tes. Nach dem eingangs Gesagten überrascht es nicht, wenn
der Discours das Cogito als besonders erfolgreichen Versuch
darstellt, die Realität des Diskurses zu überspringen. In der
cartesianischen Welt, sagt Foucault, gibt
es nur das begrün-dende Subjekt - das Ego des Cogito - und ihm gegenüber die
sinnerfüllten Dinge, mit denen es sich in zwar befragbarer,
80
zuletzt jedoch unverbrüchlicher
Komplizenschaft verbunden weiß. Der methodische Zweifel dient einzig dem
Zweck, bis zu dem Punkt vorzustoßen, an dem er zu verstummen hat. Der
Rest ist Wahrheit. Auf das, was Foucault den Diskurs nennt, fällt bei Descartes kein Licht. Die Welt erscheint der
Wahrnehmung in reiner und klarer Unverstelltheit. So for-muliert, liegt der
Einwand gegen den Cartesianismus offen zutage. Was ihn richtet, ist seine
obstinate Voraussetzungslosigkeit oder, in der Sprache Hegels, seine
Abstraktion. Der Diskurs bezeichnet genau das, was im Selbstbegründungsver-fahren
des Cogito ausgeblendet ist.
Dieses Bedenken - Foucault selbst weist darauf hin - gehört
zu den geläufigen Topoi der Descartes-Kritik. So räumt He-gel in seinen
philosophiegeschichtlichen Vorlesungen zwar ein, daß Descartes mit seinem 'Prinzip der
Innerlichkeit' die Philosophie der neueren Zeit begründet habe. Er
bemängelt aber eine ausgesprochen naive Verfahrensweise. Was hier fehlt,
sagt Hegel, ist die Vermittlung. Dieser Einspruch relati-viert die
cartesianische Unmittelbarkeit als etwas bloß Ge-setztes. Er deutet sie
als eine Idee, die im Vollzug des zu sich selbst kommenden
Selbstbewußtseins aufgenommen, in ih-ren Grenzen bestätigt und
schließlich überwunden wird. Denn allem Anschein zuwider
gründet sie auf Bedingungen, die ihrerseits der historischen
Veränderung unterliegen. Im Gegensatz dazu muß die Erkenntnis des
Wahren ihre Voraus-setzungen stets mitbedenken. Das einfache Unmittelbare ist keineswegs
selbstverständlich, sondern eine Ausdrucksge-stalt des in ständiger
Bewegung befindlichen Systems der Ver-mittlungen. In ihm entfaltet und spiegelt
sich die Vernunft, indem sie reglementiert, überwacht und straft. 'Es ist
daher ein Verkennen der Vernunft', folgert die Phänomenologie, 'wenn
die Reflexion aus dem Wahren ausgeschlossen und nicht als positives Moment des
Absoluten erfaßt wird.'51 Das Denken der Unmittelbarkeit,
entgegnet Hegel ihren Fürspre-chern, hat seine ungedachten Voraussetzungen,
seinen blin-den Fleck im 'non-pensé'.
81
Wäre nun also Foucaults Diskurs
als das zu begreifen, was bei Hegel Vermittlung heißt, nämlich als
die in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes so beschriebene
'sich be-wegende Sichselbstgleichheit' oder 'Negativität'52,
von der die bisherige Philosophie für Hegels Geschmack allzu wenig hat
wissen wollen ? Ist es das, was Foucault meinte, als er an den Voraussetzungsreichtum des Wissens
erinnerte, mit dem sich das 19. Jahrhundert konfrontiert sah? Leistet, mit
einem Wort, die Genealogie jene von Hegel geforderte Reflexion? Foucault räumt ein, daß die
Verhältnisse auf den ersten Blick tatsächlich so erscheinen
könnten. Dann aber sträubt er sich doch. Denn Hegel orientiert alles
Geschehen an der souverä-nen Selbstbewegung des absoluten Geistes, dessen
Autorität es auch und gerade dann, wenn es sich autonom und ereignis-haft
zu verselbständigen scheint, unterworfen bleibt. Indem das einzelne seinem
eigenen Gesetz folgt, vollzieht es tatsäch-lich die Maßgaben der listigen
Vernunft, der es seine Wirk-lichkeit verdankt : das Vernünftige ist
wirklich und das Wirk-liche vernünftig. Es sind, so paraphrasiert Die
Ordnung des Diskurses diesen Gedanken, 'die Dinge selbst und die Ereig-nisse,
die sich unmerklich zu Diskursen machen, indem sie das Geheimnis ihres eigenen
Wesens entfalten'53. Damit aber findet sich die Diskursanalyse nicht
ab. Gegen das in alle Ver-ästelungen der Wirklichkeit eindringende System
der Ver-mittlungen, das seine Manifestationen aus der, wie Foucault sagt, 'stillen Innerlichkeit des
Selbstbewußtseins' hervor-bringt, setzt die Genealogie die
Unverbundenheit und Spon-taneität des Ereignisses.
Damit verstärkt sich allerdings
auch der Anschein der Viel-deutigkeit. Wenn als Diskurs einerseits die
Regelförmigkeit und Determination des Sprechens, Handelns und Verhal-tens
gilt, dem der einzelne nicht vorgreifen und entrinnen kann, so bezeichnet er
andererseits auch jene Kraft, die sich der Determination widersetzt. In dieser
Hinsicht ist der Dis-kurs die Unkontrolliertheit schlechthin: das Ereignis
oder, treffender, die Materialität des Ereignisses. Seine Realität
ist
82
das, was sich am anderen vollzieht.
Wenn wir die in diesem, wie Foucault selbst
ihn nennt, 'Materialismus des Unkörper-lichen'54 enthaltene Replik
auf Hegel und jene (wiederum nicht ganz ohne das Zutun Hegels zustande
gekommene) Distanzierung vom cartesianischen Cogito nebeneinander-stellen, dann
stoßen wir auf die Pointe dieser doppelten Geg-nerschaft. Es handelt sich
nicht um ein Entweder-Oder, nicht um ein Einerseits-Andererseits, sondern um
ein Sowohl-Als-auch: Tatsächlich umfaßt Foucaults Begriff des Dis-kurses
beides, also die Einschränkung und das Ereignis, die Grenze und
die Überschreitung, das Verbot und die Über-tretung.
Was aber ist damit gewonnen ? Worin
besteht der Vorteil die-ser, wie wir oben sagten, positiven Zweideutigkeit?
Erreicht wird vor allem die Loslösung vom hergebrachten, häufig auch
ungeprüften Vorverständnis, von den eingefleischten Deutungsfiguren
und ihrer hintergründigen Ontologie. Da-mit verbunden entsteht weiterhin eine neue
Perspektive. L'ordre
du discours markiert
eine theoretische Intervention, sie bedeutet Abschied und Neubeginn zugleich.
Zweifellos bleiben dabei Wünsche offen, und gern erführe man, was das
Aufkommen und die Ausbreitung der Diskurse auslöst, wor-in die Dynamik der
diskursiven Umwälzungen und Verände-rungen besteht und wie sich
schließlich die Beziehungen der Diskurse untereinander und zu ihrer
Umgebung gestalten. Doch dies sind nicht die Probleme und Perspektiven des Au-genblicks.
Dieser Moment gehört ganz dem Anstoß und dem Vollzug eines Umbruchs,
in dem sich Foucault
von seinen
historistischen Anfängen löst. Fortan, sagt er, wird es nicht mehr
darum gehen, das Bild der Vergangenheit um das Begra-bene und Vergessene, um
das Verschollene und Beiseitege-schobene zu bereichern, nicht mehr darum, 'ein
Nicht-Gesagtes oder ein Nicht-Gedachtes endlich zu artikulieren oder zu denken,
indem man die Welt durchläuft und an alle ihre Formen und alle ihre Ereignisse
anknüpft. Die Diskurse müs-sen als diskontinuierliche Praktiken
behandelt werden, die
83
sich überschneiden und manchmal
berühren, die einander aber auch ignorieren oder ausschließen.'55
Die Diskursana-lyse spricht nicht mehr unmittelbar von den Sachen, davon also,
'wie es eigentlich gewesen', sondern davon, unter wel-chen Umständen,
Bedingungen und Voraussetzungen, nach welchen Regeln, Vorlieben und
Verfahrensweisen sie präpa-riert und wahrgenommen werden.
In dieser Perspektive hört das
Verhältnis von Ordnung und Ereignis auf, gegensätzlich zu sein.
Jenseits der Frage nach kausalen oder providentiellen Bestimmungsgründen
läßt sich nun das Muster oder, wie Foucault sagt, die 'Serie' der 'Er-eignisse'
konstruieren: die Regeln und die Abweichungen, die Stabilisierungen und die
Streuungen, die Verweisungen und die Brüche. An die Stelle der
teleologisch gedachten Ent-wicklung der Geschichte setzt der Genealoge das
Flechtwerk der Diskurse, in dem 'spontanes Auftauchen' und 'geregelte
Entstehung'56 Äquivalente bilden. Als 'Ereignis' gelten nun
nicht mehr die allbekannten Kulminationspunkte und uner-hörten
Augenblicke, in denen etwa zwei Herrscher einander die Hände reichen oder
das Schwert kreuzen, in denen ein Wittenberger Mönch seine Thesen
anschlägt oder das Volk gegen eine dekadente Adelsgesellschaft revoltiert.
In deut-licher Parallele zu den Neigungen und Verfahrensweisen der Ende der
zwanziger Jahre entstandenen und bis heute erfolg-reichen Historikerschule der 'Annales' erinnert Foucaults Vorlesung
an jene unscheinbaren Geschehnisse, die, zur Serie verbunden, 'massive
Phänomene von jahrhundertelanger Tragweite'57 erkennen lassen.
Die Ereignisse, von denen der Genealoge spricht, sind unspektakulär und
weitreichend zu-gleich. Die großen Veränderungen kommen auf
Taubenfü-ßen. Es sind die Wendepunkte, Verschiebungen und Unter-brechungen,
in denen unvermerkt Bedeutungen wechseln, Machtbeziehungen kippen,
Kräfteverhältnisse umschlagen. Einen im Rücken der Ereignisse
wirkenden Souverän kennt die Genealogie nicht. Noch einmal Nietzsches Morgenröte
zitierend, erklärt Foucault, für
die Welt der wirklichen
84
Historié existiere ein einziges Reich, in dem
es nur 'jene eisernen Hände der Notwendigkeit' gibt, 'welche den Wür-felbecher
des Zufalls schütteln'58. Das hätte, ist man versucht
anzumerken, allerdings auch Hegel so sagen können - nur umgekehrt. Bei
Hegel garantiert nicht die Notwendigkeit den Zufall, sondern der Zufall die
Notwendigkeit. Wenn es richtig ist, daß die List des Diskursanalytikers
sich erheblich von der List der Vernunft unterscheidet, dann ist an dieser
Stelle mit einer markanten Profilierung zu rechnen. In der Tat steht Foucaults
scharfe Absage an die spekulative Vernunft der Kritik am Cartesianismus in
nichts nach. Die Genealogie ist nicht zuletzt eine Arbeit an Hegel - an einem
Hegel freilich, dessen Züge durch die Vorlieben der französi-schen
Philosophie der Jahrhundertmitte geprägt sind: durch die Betonung der
Geschichte, der Vernunft und des Men-schen. Bei dieser Auseinandersetzung mag Foucault im übri-gen gelegen gekommen
sein, was er seinerzeit bei Hyppolite über den Autor der Phänomenologie
des Geistes erfahren hatte, entscheidend aber ist es nicht. Die heutige
Resonanz Hegels ist vergleichbar der Aufnahme, die Spinoza im 18. Jahrhundert
fand, als ebenfalls die spärlichsten Informa-tionen ausreichten, um die
größte Wirkung zu entfalten. Foucaults Hegel-Kritik macht da keine
Ausnahme. Auch ihn bewegt an Hegel nichts so sehr wie die Folgen: der Hegelia-nismus.
Es ist weniger sein Bildungsgang als ein aktuelles Interesse, das Foucaults
Verhältnis zu Hegel bestimmt. Seine Abwehr begreift sich allerdings vor
dem Hintergrund eines durchaus genuinen Motivs, der Erfahrung nämlich,
daß es mit dem durch Hegel in die Moderne geretteten Denk-typus seine ganz
besondere Bewandtnis hat: Hegel ist immer schon da. Seine Philosophie ist so
präpariert, daß sie alles künftige Denken darauf festlegt, in
ihrer Spur zu bleiben, also im wortwörtlichen Sinn Nachfolger zu sein.
Nicht einmal der Discours macht da eine Ausnahme, wenn er sich gestattet, mit dieser Hypothek zu
kokettieren. Das kritische Verfahren des 'renversement'59, von dem Foucault spricht, also die
85
'Ver-' oder 'Umkehrung', geht geradewegs auf
eine ver-traute Metapher aus der Phänomenologie zurück, die Hegel auch
später gern verwendet hat. Die an und für sich seiende Welt,
heißt es in der Wissenschaft der Logik, sei die verkehrte der
erscheinenden. Für die Genealogie stellt sich die Frage, wie sie Hegel
entgehen soll, vor allem dann, wenn sie ihn bloß 'umkehrt'. In
dialektischer Perspektive gehört das, was sich wechselseitig im
Verhältnis der Inversion befindet, un-trennbar zusammen. Und wußte
nicht auch Hegel von den Aporien des Anfangs ? Polemisiert nicht auch er gegen
die 'Ty-rannei des guten Willens'60, unterstellt nicht auch er die
Un-denkbarkeit des Glücks ? Es sind dies die Fragen, mit denen L'ordre du discours ausklingt. Hegel wird für
Foucault darum zum Problem, weil er,
der einst 'das äußerste Wagnis der Phi-losophie'61
eingegangen war, ihm plötzlich so nahe steht.
Mit der Abwehr des von Hegel in
beispielloser Weise geför-derten Patronats der Vernunft stand Foucault nicht allein. Wenn ihm die 'Frankfurter Schule'
rechtzeitig bekannt ge-wesen wäre, so hat er 1983 erklärt, dann
wären ihm viele Um-wege der letzten Jahre erspart geblieben. In der Tat
hat Max Horkheimer bereits 1942 die Kompromittierung der Stamm-begriffe
westlicher Zivilisation exemplarisch an ihrer, wie er damals schrieb,
höchsten Idee vorgeführt, der Idee der Ver-nunft. In diesem Text mit
dem Titel The
End of Reason, der Ende der siebziger Jahre parallel zu einem Themenheft L'École de Francfort der Zeitschrift Esprit auch
französisch erschienen ist, argumentiert Horkheimer in weiten Teilen
historisch, aber seine ganze Aufmerksamkeit gehört einer Gegenwart, die
die Vernunft formalisiert und instrumentali-siert, das heißt jedwedem
Interesse dienstbar gemacht hat. Die philosophische Kritik der wenig
später begonnenen Dialektik der Aufklärung gilt diesen
Zurichtungen. Es ist die Kritik einer Kultur, die sich dem Diktat der Vernunft
unter-worfen und sie gerade dadurch um ihr Bestes gebracht hat. Nicht nur der
Philosoph, sagt Horkheimer, auch der Kauf-
86
mann und der Diktator haben die
Vernunft zu ihrem Gott gemacht, und sie haben zweifellos den Vorteil dabei. Im
Zeit-alter ihres Triumphes, dem bürgerlichen, hat die Vernunft ihr
kritisches Potential eingebüßt und sich den Maßgaben des
Nutzens und der Effizienz unterworfen. Indem sie half, das Ganze
funktionsgerecht zu ordnen, zwang sie die Individuen zur Selbstverleugnung. Wie
zur Illustration der philo-sophischen Emphase beflügelte sie die
Revolutionäre von 1789 und ihre Widersacher gleichermaßen. 'De
Maistre, ein ver-späteter Absolutist, predigt mit Hobbes die
Abschwörung des eigenen Urteils für alle Zeit, aus Vernunft. Die
anderen setzen die demokratische Kontrolle ein.'62 Horkheimers
Reminis-zenz jener 'Fratze, die von der Vernunft noch übrig ist', deckt
sich mit vielen Beobachtungen Foucaults. Die allgemeine Ver-nunft
begründete ein System der Ausschließungen, Prozedu-ren der
Identifikation und der formalen Ordnung, dem gerade auch derjenige unterworfen
ist, der es einklagt in der Erwar-tung, es beherrschen zu können. Die
instrumenteile Vernunft jedoch regelt die Verhältnisse auf ihre Weise. Das
Individuum, schreibt Horkheimer, hat sich Gewalt anzutun. In der Perspektive
der Kritischen Theorie bestimmen Hem-mung, Disziplin und Verzicht die Praxis
moderner Vernunft-herrschaft. Des Einverständnisses der Beherrschten darf
sie gleichwohl sicher sein, weil diese ihr die Durchsetzung ihres dringlichsten
Interesses zutrauen, nämlich der Selbsterhal-tung. Die bereitwillige
Anpassung an das Gegebene, folgert die Ideologiekritik, und das Pochen auf 'die
totale Selbstbe-hauptung' gehören zusammen. Nichts als die 'conservatio
sui' hält nach Hobbes die vielen einzelnen dazu an, sich im Zeichen der
Vernunft zu einer Vertragsgemeinschaft zusam-menzuschließen und sich der
institutionalisierten Autorität der gemeinsamen Sache, dem Staat, zu
unterstellen. Allge-meines und privates Interesse, deren schmerzliches Ausein-andertreten
dann Rousseau zur Prägung seines gegen die Gesellschaft gewendeten,
die Eigenzuständigkeit radikalisierenden Begriffs der 'conservation de
soi-même' veranlassen
87
wird, finden hier ideell zusammen. Der
vernünftige und eben deshalb starke Staat, so verspricht Hobbes,
garantiert Gefah-renabwehr nach außen, während er nach innen den
störungs-freien Ablauf des bürgerlichen Verkehrs sichert, indem er
die disparaten Bestrebungen im Namen des einen und allgemei-nen Interesses
übergreift und reguliert. Staatliche Souveräni-tät und
Selbsterhaltungsinteresse sind komplementäre Grö-ßen. Der
Gehorsam der Bürger beruht auf dem Versprechen der Stetigkeit. Dadurch
aber, und auch darauf macht Horkheimer aufmerksam, bekommt das Konzept des
vernünftigen Souveräns einen polemischen Zug, der sich gegen die
rationa-listische Konstruktion der Geschichte richtet. Wo der Staat die
Voraussetzungen dafür bereitstellt, daß jedermann unge-hindert
seinen privaten Vorteil suchen kann, da erübrigt sich die Erwartung eines
kollektiven, in der Geschichte zu ver-wirklichenden Glücks. So endet hier
die Übereinstimmung zwischen der Idee der Selbsterhaltung und jener
spekulativen Vernunft, wie Hegel sie denkt.
Horkheimer zögert deshalb, Hegel
in seine kleine Geschichte der instrumenteilen Vernunft mit aufzunehmen. So
zeigt sich auch hier: An Hegel scheiden sich die Geister. Wo der Dis-kursanalytiker
darauf besteht, alles zu zerschlagen, was die Geschichte als eine geduldige und
kontinuierliche Bewegung erscheinen läßt63, deren Gang
durch und durch vernünftig sei, da ist die Kritische Theorie bereit, die
von Hegel angebo-tene Synthese von Vernunft und Historié zumindest zu prü-fen. Die Pointe
dieser Geschichtsphilosophie erkennt sie nicht zuletzt darin, die vielen
Einzeldaten und das große Ganze, Empirie und Konstruktion zur lebendigen
Einheit zu bringen, und zwar durch Anerkennung beider. Da diese Ab-sicht
ihren eigenen Vorstellungen entgegenkommt, weicht sie davor zurück, die Kritik
an Hegel zur Absage zu verschärfen. Dabei ist Horkheimer weit entfernt von
jeder Apologie. Die Unterstellung einer selbständigen Macht des Geistes
weist er ebenso kategorisch zurück wie die Spekulation auf einen alles
Geschehen durchdringenden Sinn, und die Ursprungsphan-
88
tasie, der zufolge schon die ersten
Spuren des Geistes keim-haft die ganze Geschichte enthalten sollen, beanstandet
er ebenso wie den persönlichen Friedensschluß des Staatsphilo-sophen
mit der unmenschlichen Welt. Aber er betont zu-gleich, daß niemand
anderes als Hegel noch vor Marx gezeigt habe, wie die Menschen die Geschichte
machen und gleich-wohl den bestimmten Zwängen gegebener Gesellschaftsfor-men
ausgeliefert sind. Auf diese Weise wird der Dialektiker Hegel zum zwar problematischen,
aber nicht unwillkomme-nen Verbündeten bei dem Versuch, den epochalen
Bruch zwi-schen kritischer und instrumenteller Vernunft zu beschreiben und, in
einer künftigen Gesellschaft, zu überwinden. Seit Descartes, sagt Horkheimer, ist die
Philosophie ein einziger Versuch, 'als Wissenschaft sich in den Dienst der
herrschen-den Produktionsweise zu stellen, durchkreuzt nur von Hegel und
seinesgleichen'64.
Für das linkshegelianische
Projekt einer geschichtsphilosophisch begründeten Selbstkritik der Vernunft,
wie es seit den zwanziger Jahren in Deutschland betrieben wurde, zeigt Foucault jedoch wenig Sympathie. Die seinem
Geschichts-bild angemessenen Metaphern heißen nicht Teilung und Trennung,
sondern Streuung und Verzweigung. Diesseits des Sündenfalls geschieht die
Diversifikation der Vernunft allent-halben und jederzeit, sagt der
Diskursanalytiker, und so wei-gert er sich, wie er 1968 schreibt, 'in dem
immensen Bereich der Praxis die Epiphanie einer triumphierenden Vernunft zu sehen'65. Foucault kennt keine Versöhnung, auch
nicht in der kryptischen Gestalt der Negation. Seine Polemiken gegen die
Ideengeschichte sind forcierte Angriffe auf die weitreichen-den
Kontinuitäts- und Sinnstiftungserwartungen des Hege-lianismus, und diese
Ablehnung trifft das Weltverständnis und die zentralen Begriffe
gleichermaßen. Der Perspektiven-wechsel der Genealogie löst die
Themen 'Geschichte' und 'Gesellschaftlichkeit' aus der hegelianischen Tradition
her-aus. Aber solche Eingriffe verlangen nach der Subtilität von Strategien,
die hauptsächlich im verborgenen zu führen sind.
89
Totalisierende Systeme lassen sich
nicht ungestraft wider-sprechen. Das in der Ordnung des Diskurses bereitgestellte
Instrumentarium ist deshalb eher geeignet, den gedanklichen Apparat des
Hegelianismus zu durchkreuzen oder zu umge-hen, als daß es ihm offen
opponiert. Konsequent läßt es die hegelianischen Themen und Ideen
beiseite - die Einheit der Geschichte, den Sinn des Fortschritts, die
Emanzipation des Menschen, die Hoffnung auf die Zukunft. Foucault bevor-zugt die kurze, schmerzhafte
Attacke und die wortlose Ver-weigerung. Im Horizont seiner Diskursanalyse gibt
es keine Mimesis
mehr, keine
Vernunft, die sich im Blick auf die Welt wiedererkennt, kein Spiegelspiel von
Phänomen und Begriff. Während die Spekulation Welt und Idee so tief
verbunden weiß, daß kein Ereignis diese Einheit zu gefährden
vermag, sieht der Genealoge nur noch Scherben liegen, die sich nicht mehr
zusammenfügen lassen. Aus seiner Perspektive ist es sinnlos, um die
Gestalt der einen Vernunft zu streiten, sei sie auch noch so umsichtig
gebrochen und geläutert. Denn der Hegelianismus triumphiert weniger in der
konkreten Aus-prägung, die er dem Vernunftbegriff gibt, als darin,
daß er auf ihm als einem einzigen, geschichtsmächtigen Prinzip be-harrt.
Im Gegenzug gibt Foucault nicht nur den Begriff vernünfti-ger
Kontinuität auf, sondern auch die Vorstellung einer Kon-tinuität der
Vernunft. Gerade dadurch, und das ist sein Vorteil, gewinnt er freie Hand. Die
Beweglichkeit seines Denkens, das notorische Schwanken seiner Schriften zwi-schen
'livre de plage' und gelehrter
Abhandlung, der jähe Wechsel von schwebender Eleganz zu
äußerster Sprödheit, vom marmornen Begriff zum filigranen
Lyrismus, all diese Maskeraden und Travestien sind nichts weniger als Beiwerk
und Attitüde. Es sind Versuche, den Verlockungen des Hege-lianismus zu
entkommen, den Aufforderungen zum Be-kenntnis, der Unterstellung von Sinn. An
die Stelle der auch von Hegels Kritikern geteilten Erwartung, die Geschichte
wenn nicht in die Hand zu bekommen, so doch begreiflich zu
90
machen, tritt das Bewußtsein um
ihre grundsätzliche Unge-wißheit und 'fragilité'. In einem Interview, das der Nouvel Observateur im März 1977
veröffentlichte, hat Foucault dazu
erklärt : 'Ich träume von dem Intellektuellen als dem Zerstörer
der Evidenzen und Universalien, der in den Trägheitsmomen-ten und
Zwängen der Gegenwart die Schwachstellen, Öff-nungen und Kraftlinien
kenntlich macht; der fortwährend seinen Ort wechselt, nicht sicher
weiß, wo er morgen sein noch was er denken wird, weil seine
Aufmerksamkeit allein der Gegenwart gilt; der, wo er gerade ist, seinen Teil zu
der Frage beiträgt, ob die Revolution der Mühe wert ist [...], wobei
sich von selbst versteht, daß nur die sie beantworten können, die bereit
sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um sie zu machen.'66 In
Passagen wie dieser, der gleichsam heroischen Variante, betreibt Foucault die Wiedereinsetzung der Rhetorik. Sie
gestattet dem Betrachter einen heiter-iro-nischen Blick auf sein Tun. Foucaults
Schriften, er selbst hat es wiederholt gesagt, erinnern an die Aufzeichnungen
eines Fremden, der die Welt der gelebten Bedeutungen aus weite-ster Ferne
betrachtet wie ein Ethnologe der eigenen Kultur. Und doch liegt der Fall so
klar und eindeutig nicht. Kaum nämlich haben wir ihn dort, weitab von
allem Geschehen, entdeckt, bemerken wir ihn plötzlich ganz in der
Nähe, wie er sich in praller Sonne über die Dinge des Lebens beugt.
Mit großer Umsicht hat der Philosoph mit der Maske dafür gesorgt,
alles Erdenkliche zu sein, nur nicht der, für den man ihn hält. Die
an den Anfang dieser Vorlesung gestellte Szene-rie des Zurücktretens
demonstriert die Gleichzeitigkeit von Abwesenheit und Präsenz. Sobald wir
die Stelle, an der wir ihn vermuten, schärfer ins Auge fassen, sehen wir
sein Bild verlöschen.
91
Anmerkungen
1.šš René Magritte, Sämtliche
Schriften, hg. v. André Blavier, München 1981, S.
133.
2.š René Descartes, Cogitationes privatae, in: Œuvres, hg. v. Charles
Adam und Paul Tannery, Paris 189711., Bd. 10, S. 213.
3.šš Vgl. Kurt Röttgers, Spuren der
Macht. Begriffsgeschichte und Systematik, Freiburg i. Br./München
1990.
4.š In dieser Ausgabe: S. 9; der
französische Text folgt der Ausgabe: L'ordre du discours, Paris 1971, S.
7.
5.šš So die berühmten Formeln Rankes und
Husserls. Vgl. Leopold von Ranke, Geschichten der romanischen und
germanischen Völker von 1494-1514, in: Sämmtliche
Werke, 33. und 34. Band, Leipzig 1874, S. VII, sowie Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Zweiter Teil.
Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Halle 1901, S.
7.
6.š S. 17 dieser Ausgabe.
7.š Jürgen Habermas, Der philosophische
Diskurs der Moderne. Zwölf Vor-lesungen, Frankfurt a. M. 1985, S. 326.
8.šš Auch diese Formeln gehören zum Ethos
des Historismus. Vgl. Leopold von Ranke, Englische Geschichte, in: Sämmtliche
Werke, a.a.O., Bd. 15, S. 103.
9.š S. 12 dieser Ausgabe.
10. Michel Foucault, 'Nietzsche, die Genealogie, die Historié', in: Von der
Subversion des Wissens, hg. u. übers. v. Walter Seitter, Frankfurt a.
M. 1987, S. 87.
11.šš Meister Eckhart, Die deutschen und
lateinischen Werke, hg. im Auftrag der deutschen Forschungsgemeinschaft,
Stuttgart 1936 ff., Bd. 2, S. 68.
12.š Voltaire am 29. Dezember 1757 an Jean Le Rond d'Alembert. In
: Œuvres complètes, hg. v. Louis Moland, Paris 1877 ff., Bd. 39,
S. 341.
13.šš Voltaire am 12. Januar 1759 an
Marie de Vichy de Chamrond, Marquise Du Deffant. Ebd., Bd. 40, S. 13.
14.š René Descartes, Discours de la
méthode, in: Œuvres, a.a.O., Bd.6, S. 32 f. ('ie pense, donc ie
suis').
15.šš Renéšš
Descartes,šš Méditationsšš métaphysiques,šš in:šš
Œuvres,šš a.a.O., Bd. 9,1, S. 19.
16.š Johann Wolfgang Goethe, 'Über
epische und dramatische Dichtung', in: Werke, hg. v. Erich Trunz,
München 1981, Bd. 12, S. 251.
17.š Jean-Jacques Rousseau, Emile, in: Œuvres
complètes, hg. v. Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, Paris 1969,
Bd. 4, S. 585.
18.šš Friedrichš
Nietzsche,š Götzen-Dämmerung,š in:šš
Werke,š hg.š v.šš
Karl Schlechta, München, 6. Aufl. 1969, Bd. 2, S. 1023.
92
19.š Vgl. Michel Foucault, 'Vorwort zu
den Dialogen von Rousseau', in: Schriften zur Literatur, Frankfurt a. M.
1988, S. 32-52.
20š Rousseau, Emile, a.a.O., S. 57of.
21.šš Rousseau am 4. Februar 1760
an Mme. de Verdelin. In: Correspondance
générale, hg. v. Pierre-Paul Plan, Paris 1924 ff., Bd. 5, S.
42 f.
22š Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung
der Dinge, Frankfurt a. M. 1971, S. 389 ff.
23š Foucault, 'Nietzsche', a.a.O.,
S. 69 f.; vgl. Friedrich Nietzsche, Mor-genröte, in: Werke, a.a.O.,
Bd. i, S. 1045 f.
24š Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen
1930-1935, Frankfurt a. M. 1984, S. 172.
25šš Ludwig Wittgenstein, Tractatus
logico-philosophicus, Frankfurt a. M. 1960, S.90 (5.632).
26š Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und
Böse, in: Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 580 f.
27š Michel Foucault, 'Was ist ein Autor?'
In: Schriften zur Literatur, a.a.O., S. 7-31.
28.š Ebd., S. ii.
29.š Gustave Flaubert am 12./13. November 1859
an Ernest Feydeau. In: Briefe, hg. u. übers. v. Helmut Scheffel,
Zürich 1977, S. 423 f.
30.š Flaubert am 10. August 1868 an George Sand.
Ebd., S. 533.
31.š Jean-Jacques Rousseau,š Confessions, in:š Œuvres complètes,š a.a.O., Bd. 1, S. 5.
32š Michel Foucault, Die Archäologie
des Wissens, Frankfurt a. M. 1973, S. 285.
33.šš Ebd., S. 292.
34.š Michelš
Foucault,š Überwachenš und Strafen,š
Frankfurtš a. M. 1976, S.42.
35. S. 9 dieser
Ausgabe.
36.š Gilles Deleuze, Foucault, Frankfurt a.
M. 1987, S. 17.
37.š Zur Biographie siehe Didier Eribon, Michel Foucault, Paris 1989.
38.šš 'Michel Foucault im
Gespräch mit Paolo Caruso', in: Von der Subver-sion des Wissens, a.a.O.,
S. 19.
39.š S. 10 f. dieser Ausgabe.
40.š Vgl. Friedrich Schlegel, 'Über die
Unverständlichkeit', in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg.
v. Ernst Behler, München, Paderborn, Wien 1958 ff. Bd. 2, S.
367.
41.šš 'Michel Foucault im
Gespräch mit Studenten', in: Von der Subversion des Wissens, a.a.O.,
S. 103 f.
42.šš Foucault, 'Nietzsche', a. a. O.,
S. 85.
43.šš Ebd., S.73.
44.š Michel Foucault, 'Von den Martern zu
den Zellen', in: Mikrophysik der Macht.š
Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 45.
93
45.šš Michel Foucault, 'Antwort auf eine
Frage', in : Linguistik und Didaktik 3/4, München 1970, S. 315.
46.š Vgl. S. 3 5 dieser Ausgabe , frz. S. 5 5 f.
47.š Foucault, 'Nietzsche', a. a. O.,
S. 69.
48.š S. 17 dieser Ausgabe, frz. S. 23.
49.š Ebd., S. 25.
50.š Ebd., frz. S. 37.
51.šš Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie
des Geistes, Frankfurt a.M. 1973,8.25.
52.š Ebd.
53.šš S. 32 dieser Ausgabe.
54.š Ebd., S. 37.
55.šš Ebd., S. 34.
56.š Ebd., S. 42.
57.š Ebd., S. 36.
58.šš Foucault,š
'Nietzsche', a. .a. O., S.š 80; vgl. Nietzsche, Morgenröte, a.a.O.,
S. 1102.
59.š S. 34 dieser Ausgabe, frz. S. 5 3 f.
60.š Michel Foucault, 'Theatrum philosophicum',
in: Gilles Deleuze/Michel Foucault, Der Faden ist
gerissen, Berlin 1977, S. 39.
61.šš S. 46 dieser Ausgabe.
62.š Max Horkheimer, 'Vernunft und
Selbsterhaltung', in:š Gesammelte
Schriften, hg. v. Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt a. M.
1985 ff., Bd. 5, S. 325.
63.šš Foucault, 'Nietzsche', a. a. O.,
S. 79 f.
64.š Horkheimer, 'Vernunft und Selbsterhaltung',
a. a. O., S. 339.
65.šš Foucault, 'Antwort auf eine
Frage', a.a. O., S. 322.
66.š Michel Foucault, 'Nein zum König
Sex', in: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit,
Berlin 1978, S. 198.
René Magritte entdeckt
seinen
Kritiker: Michel Foucault
Michel Foucault
Dies ist keine Pfeife
Aus dem
Französischen und mit
einem Nachwort von
Walter Seitter
72 Seiten.
Französische Broschur
Nicht ein Interpret entdeckte hier zuerst den
Künstler, sondern umgekehrt dieser seinen zukünftigen Interpreten.
Magritte hatte sich an Foucault gewandt, um auf Ähnlichkeiten in beider
Arbeiten hinzuweisen. Das Ergebnis sind anregende, philosophische Texte, Essays
zur Kunst, in denen Michel Foucault die Werke von René Magritte,
Wassily Kandinsky, Paul Klee, Marcel Duchamp und Andy Warhol auf seine
ganz eigene Weise reflektiert und eine neue kunsthistorische Linie aufzeigt.
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update 21.02.03